Global Governance

„Rettung vor der Hölle“

Auch 50 Jahre nach dem Tod von UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld lebt sein Erbe weiter. Angesichts der überwältigenden globalen Herausforderungen braucht die Menschheit Vereinte Nationen, die jenen Menschen eine Stimme verleihen, die sonst ungehört bleiben würden.


Von Henning Melber

2011 ist es 50 Jahre her, dass der zweite Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Im Rückblick wird er als der außergewöhnlichste Generalsekretär gepriesen, den die UN je hatten. „Mehr General als Sekretär“ war eine gängige Einschätzung. Der schwedische Bürokrat war ein internationaler Beamter, der Standards setzte. Er steuerte die Institution durch die rauen Wasser des Kalten Krieges und die Wellen der Veränderung, die über den afrikanischen Kontinent schwappten.

1954 – nach einem Jahr im Amt – schloss Hammarskjöld sich der Ansicht an, die Vereinten Nationen seien nicht gegründet worden, „um uns in den Himmel zu bringen, sondern vor der Hölle zu retten“. Leider hat sich seither nicht viel geändert: Dieser Leitsatz passt noch immer.

Ein halbes Jahrhundert nach Hammarskjölds Tod sind viele den UN gegenüber skeptisch. Die Institution wird kaum für ihre Erfolge gelobt, sondern eher für Mängel und Versagen kritisiert. Die große Bandbreite an Abkommen, Konventionen, Resolutionen und anderen Programmen und Deklarationen, die in über 60 Jahren entstanden sind, zeigt, wie sehr die definierten Zielen der UN und die ernüchternde soziale und politische Realität auseinanderklaffen. Aber wäre die Welt ohne diese Rahmenvorgaben ein besserer Ort? Wären wir besser dran ohne die UN?

Beispiele aus Afrika

Besonders diejenigen aus dem so genannten „globalen Süden“, die dazu neigen, die Institutionen globaler Regierungsführung als Instrumente hegemonialer Interessen zu kritisieren, sollten sich klarmachen, dass die Welt ohne die begrenzte Macht der UN ein noch schlimmerer Ort wäre. Nehmen wir etwa das Beispiel südliches Afrika.

Schon früh nutzten der UN-Treuhandschaftsrat, der die Verwaltung der Mandatsgebiete vor deren Unabhängigkeit überwachte, und die Generalversammlung ihre normative Macht, um die Apartheid in Südafrika als „Verbrechen gegen die Menschheit“ zu brandmarken. Daraufhin verhängte der UN-Sicherheitsrat sein erstes Waffenembargo gegen das südafrikanische Minderheitsregime. Der UN-Rat für Namibia wiederum spielte eine wichtige Rolle in der langwierigen Dekolonisierung des Landes.

Auch andernorts spielten UN-Organe und UN-Sonderbeauftragte, die zunächst von Hammarskjöld als seine persönlichen Gesandten ernannt wurden, eine kons­truktive Rolle bei der Beilegung von Konflikten. Viele Unabhängigkeitskämpfe hätten länger gedauert oder wären erfolglos geblieben, hätten die UN sie nicht auf die globale Bühne gehoben.

Hammarskjöld führte zudem die Friedensmissionen ein. Er setzte sich gegen alle Widrigkeiten durch, als die so genannte Suezkrise 1956 ausbrach. 1960 trug er entscheidend zu einer Mission im Kongo bei. Das organisatorische Vorgehen bei Friedensmissionen, das er damals einführte, hat sich ebenso wie die damals geschaffenen Strukturen bis heute bewährt.

Dennoch fand Hammarskjöld keine friedliche Lösung für den Kongo. Er starb in den frühen Morgenstunden des 18. September 1961 nach einem Flugzeugabsturz in der Nähe des Wracks. Das Flugzeug war vor der Landung in Ndola abgestürzt, einer Minenstadt im heutigen Sambia, die an die frühere Kolonie Belgisch-Kongo grenzte. Keiner der 15 anderen Menschen an Bord überlebte. Über die Ursache des Absturzes wird bis heute spekuliert.

Der Kongo wurde Opfer autokratischer Regierung und blieb weiterhin von Gewalt zerrissen. Der bis heute in unterschiedlichen Formen andauernde Bürgerkrieg kostete Millionen das Leben und zerstörte die physische und geistige Gesundheit weiterer Millionen Menschen. Frauen und Kinder litten oft besonders unter der Gewalt der Milizen, die vor systematischer Vergewaltigung und anderen Grausamkeiten nicht zurückschreckten.

Auch wenn sie nicht in der Lage sind, allen Katastrophen Einhalt zu gebieten, nehmen die UN sich vieler Probleme an. Die Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats vom Oktober 2000 ebnete den Weg für einen neuen Ansatz im Umgang mit Gender-Fragen. Die Sicherheitsratsresolution 1960 vom Dezember 2010 schuf neue Standards im Umgang mit systematischer Sexualgewalt in militärischen Konflikten. Vergewaltigung kann so als Kriegsverbrechen verfolgt werden. Das sollte der Menschheit als Leuchtfeuer dienen – und ist ein Beispiel für die Relevanz der Welt­institution, zumindest was ihr juristisches und moralisches Gewicht betrifft.

Leider ist die Demokratische Republik Kongo nicht der einzige Ort, an dem es den UN nicht gelungen ist, Frieden zu schaffen. Die jüngsten Nachrichten über Hunger und Gewalt in Somalia sind nur ein weiteres Beispiel. Andererseits nehmen sich die UN zunehmend neuer Aufgaben an. Die Resolution 1962 des Sicherheitsrats zur Elfenbeinküste, die im Dezember 2010 verabschiedet wurde, und die im Februar und März 2011 verabschiedeten Resolutionen 1970 und 1973 zu Libyen haben in diesen Ländern ganz sicher etwas bewirkt. Langfristig könnte sich sogar he­rausstellen, dass sie einen neuen Standard gesetzt haben, wenn es um die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft geht, Menschen vor mörderischen Regierungen zu schützen.

Es ist wahr: Beide Fälle sind ungewöhnlich und bergen das Risiko, dass die Länder weiterhin einseitig aus Opportunismus und Vormachtstreben von Hegemonialinteressen ausgebeutet werden. Es gibt noch kein abschließendes Urteil über die Effektivität militärischer UN-Interventionen gegen Diktatoren, die Grundrechte und Regeln verletzen. Die Täter berufen sich häufig auf die nationale Souveränität ihres Landes. Es ist jedoch offensichtlich geworden, dass dieses Prinzip ihnen nicht das Recht geben darf, ihr eigenes Volk abzuschlachten.

Nationale Grenzen und globale Herausforderungen

In Zeiten bedrohlicher weltweiter Probleme sind die UN wichtig für globale Regierungsführung. Das UN-System ergänzt die auf dem Westfälischen Frieden basierende Ordnung der souveränen Nationalstaaten, die über bi- und multilaterale Beziehungen verbunden sind. Denn die größten Bedrohungen für die Menschheit – Klimawandel, Lebensmittelknappheit und Krieg, um nur drei zu nennen – machen nicht vor nationalen Grenzen halt.

Es lässt sich nur spekulieren, was Hammarskjöld angesichts der heutigen ökologischen Herausforderungen, des internationalen Terrorismus und verschiedener anderer, zu seiner Zeit noch un­bekannter Phänomene vorgeschlagen hätte. Sicher wäre er die Dinge auf seine Weise angegangen. Statt Polarisierung suchte er den Dialog. Und er besaß eine tiefe Liebe zu Natur, Kultur, Religion und den Künsten.

In einer Rede zum Thema „Asien, Afrika und der Westen“, die er am 4. Mai 1959 in der Universität von Lund hielt, sagte Hammarskjöld: „Die Organisation, die ich repräsentiere …, basiert auf einer Philosophie der Solidarität.“ Empathie und Inte­grität sind weitere Werte, für die er einstand und nach denen er lebte. Er schuf einen moralischen Kompass für interna­tionale Organisationen und Kriterien, an denen noch heute die Leistung der UN und ihrer führenden Mitarbeiter gemessen werden kann.

Eine Welt

Hammarskjöld zufolge sollten die UN bei ihrer Arbeit auf die Gemeinsamkeiten ­aller Menschen bauen. Im Februar 1956 sprach er vor dem Indian Council of World Affairs. Er war noch inspiriert von seiner Begegnung mit der südasiatischen Kultur, und so beschäftigte sich seine Rede mit der menschlichen Vielfältigkeit: „Unsere Welt von heute ist mehr denn je eine Welt. Die Schwäche des einen ist die Schwäche aller, und die Stärke des einen – und zwar nicht die militärische Stärke, sondern die richtige Stärke, die ökonomische und die soziale Stärke, das Glück der Menschen – ist indirekt die Stärke aller.“ Die Existenz und Arbeit der UN waren für ihn eine Bestätigung, dass Menschen ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen und eine Welt schaffen können, in der alle in Würde leben.

Als kosmopolitischer Schwede glaubte Hammarskjöld an die UN als eine internationale Behörde, die von Machtinteressen unabhängig ist. Am 8. September 1961 wandte er sich zum letzten Mal an die Mitarbeiter des UN-Sekretariats. Seine Worte sind auch heute noch relevant: „Es geht ums Prinzip: Soll das Sekretariat zu einem internationalen Sekretariat werden, mit der vollen Unabhängigkeit, die in Artikel 100 der Charta erläutert wird, oder soll es als zwischen den Regierungen vermittelndes – nicht internationales – Sekretariat verstanden werden, das nur die notwendigen administrativen Dienstleistungen für eine Konferenzmaschinerie bereitstellt? Das ist eine grundlegende Frage und die Antwort hat nicht nur Auswirkungen auf die Arbeit des Sekretariats, sondern auf die Zukunft der internationalen Beziehungen.“ Aus Hammarskjölds Sicht sollten die UN für diejenigen sprechen, deren Stimme sonst nicht gehört oder ignoriert wird.

Sein Erbe bleibt lebendig – nicht nur und nicht zuletzt deshalb, weil weiterhin Regeln zum Schutz der Menschenrechte erarbeitet und umgesetzt werden. Natürlich können uns normative Vorgaben allein nicht vor der Hölle schützen. Aber ohne diese Normen wären wir der Hölle noch näher.

Nein, die UN sind weder perfekt noch haben sie die Welt in einen perfekten Ort verwandelt. Aber sie haben sie zu einem besseren Ort gemacht – und tun das auch weiterhin.