Interkulturelle Musik

Musik des Nils

Das multinationale Musikkollektiv „The Nile Project“ entstand durch einen Fluss. Gesungen wurde in einer Vielzahl von Stilen und Sprachen, über das Leben am und mit dem Nil. Es scheiterte, wie viele Projekte in der Region, an Politik. Dieser Beitrag ist der erste unseres diesjährigen Kultur-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
Das erste Album der Band ist nach der ägyptischen Stadt Assuan am Nil benannt. picture-alliance/EPA/KHALED ELFIQI Das erste Album der Band ist nach der ägyptischen Stadt Assuan am Nil benannt.

Der Ägypter Mina Girgis beschloss 2011, im Jahr des Arabischen Frühlings, ein musikalisches Projekt ins Leben zu rufen. Inspiriert wurde der Musikethnologe allerdings nicht von den Protesten rund um Kairos Tahrir-Platz, sondern von einer der wenigen Beständigkeiten seines Landes: dem Nil.

Doch der Nil gehört den Ägyptern nicht allein, und daher wurde Girgis schnell klar, dass ein solches Projekt ebenso über Ländergrenzen fließen müsse wie der längste Fluss Afrikas. Seine Vision war ein Verband für Musizierende aus den Anrainerstaaten des Nils. Ab 2012 tourte „The Nile Project“ mit rund 18 Musiker*innen durch Kenia, Uganda, Tansania, Ägypten und Äthiopien und bot Workshops für lokale Musikgruppen an, in denen das gemeinsame Lernen voneinander im Vordergrund stand.

Die Message des „Nile Projects“ war von vornherein politisch. Das potenziell vereinende Moment des Stroms wird überlagert von zahlreichen Konflikten sowohl innerhalb als auch zwischen den Ländern. Vor drei Jahren standen etwa Äthiopien und Ägypten kurz vor einem „Wasserkrieg“ um die Nutzung des Nils, als Äthiopien den größten Staudamm der Welt am Oberlauf des Blauen Nils baute und damit den Wasserzulauf nach Ägypten zugunsten der eigenen Stromversorgung massiv verringerte.

Girgis und die anderen Musiker*innen hofften stattdessen auf die vereinende Kraft der Musik. Drei Alben und eine EP (Extended Play) entstanden. Das erste Album, „Aswan“, ist ein Live-Album, aufgenommen bei ihren ersten gemeinsamen Konzerten in der gleichnamigen ägyptischen Stadt. Gesungen wird, wie auf den anderen Alben, unter anderem auf Amharisch, Kiswahili, Tigrinya, Kirundi, Luganda, Kinyarwanda und auf nilotischen Sprachen wie Dholuo. Insbesondere verschiedene Ausprägungen des Arabischen führen dazu, dass sich zum Beispiel Sänger*innen aus dem Sudan und Ägypten bei Duetten nicht immer einigen konnten, wie bestimmte Worte auszusprechen sind – das wurde bei Auftritten dann einfach thematisiert, und trotzdem sang jede*r die Worte so, wie es in der jeweiligen Region üblich war.

Bereits diese ersten Aufnahmen machen die Vielfalt des Kollektivs deutlich. So stehen schnelle, tanzbare Stücke wie „Salaam Nubia“, in dem mehrere Sängerinnen die Trommeln vor sich hertreiben, neben anderen wie „Tezeta“, in denen ein Solosänger schwere Wüstenklänge trägt, die durch Blasinstrumente, in einigen Fällen sogar durch Saxophone, in die Moderne befördert werden.

„Jinja“, das zweite Album des „Nile Project“, ist nach der ugandischen Stadt an einer der Nilquellen benannt. Man merkt, dass sich die Gruppe im Erscheinungsjahr 2017 nach vier Jahren gemeinsamer Arbeit im Wortsinn eingespielt hat. Klangen manche Stücke auf „Aswan“ noch recht dissonant aufgrund der Vielzahl an Instrumenten, Färbungen und Stimmen, fühlt es sich an, als führten die Musiker*innen auf „Jinja“ in größerer Harmonie durch ihr Werk, auch wenn sich an der musikalischen Diversität nichts geändert hat.

Selbst ein Lied wie „Ya Abai Wuha“ („Die Wasser des Nils“), in dem die Sängerin erst getragen auf Amharisch den großen Fluss preist, bevor es mittendrin plötzlich umbricht und Flöten und Trommeln zum Tanzen einladen, transportiert eine spürbare Verbundenheit. Es ist das bisher stärkste Werk der Gruppe.

Auf „Tana“, dem dritten Album, setzt sich der Eindruck des Miteinanders fort, genauso wie die Umbrüche in den Liedern. Kaum ein Stück endet im Tempo oder Stil, in dem es begonnen hat, weshalb auch alle Lieder zwischen fünfeinhalb und zehn Minuten lang sind. Dennoch weiß man beim Hören so gut wie immer, wo am Nil man sich gerade befindet. „Sigalagala“ (Dholuo für „Geheul“) etwa ist von klassischem Pop aus Uganda und Kenia beeinflusst, während das arabische „Ibn Masr“ („Sohn Ägyptens“) bei den ersten Klängen in die Sahara versetzt. Spannend wird es, wenn sich die verschiedenen Kulturen mitten in einem Lied treffen, wie bei „Naloona Sielewi“ („Schau, ich verstehe es nicht“), in dem sich die beiden Sänger auf Nubisch und Kiswahili fragen, welchen Sinn Grenzen haben.

In vielen Texten geht es um die Überwindung von Grenzen, um Kameltreiber, die durch alle Nilstaaten ziehen, oder gemeinsames Essen, das verbindet. Es genügt, dass der Nil unser aller Vater ist, singen Kasiva Mutua und Asia Madani in „Ma Badoor“. Andere wiederkehrende Themen sind Liebe, Schönheit, Freundschaft, Familie, der muslimische wie der christliche Gott und immer wieder Ehrerbietung für den Nil als Quelle des Lebens. Auf der Internetseite des Projekts finden sich manche Texte des Kollektivs in der Übersetzung.

Einige Jahre lang trug die Gruppierung die Musik des Nils in die ganze Welt, sie tourte durch Europa und die USA und gab 2015 ein vielbeachtetes Konzert im UN-Hauptquartier in New York. Dann musste sie erkennen, dass Musik wie auch Wasser auf menschengemachte Grenzen stößt.

„The Nile Project“ war mittlerweile als Nichtregierungsorganisation (NGO) eingetragen und kam somit auf den Radar der ägyptischen Regierung, die 2017 ein Gesetz verabschiedete, das es ihr erleichterte, gegen zivilgesellschaftliche Organisationen vorzugehen. Wie die Tageszeitung taz berichtete, wurde es wegen der zunehmenden Spannungen insbesondere zwischen Äthiopien und Ägypten für die Gruppe, der von Beginn an viele Äthiopier*innen angehörten, dann immer schwieriger, Visa zu erhalten, um zu reisen und sich zu treffen.

Rivalitäten mit einem anderen Projekt bei dem Hauptfinanzierer der Gruppe, der Schweizer Entwicklungsagentur, führten zudem dazu, dass Gelder umgeleitet wurden – das vorläufige Ende des „Nile Project“. Das bisher letzte Album der Gruppe erschien 2019. Auf der EP treffen die Musiker*innen des Nils auf Drum-Künstler Jan Schulte alias Wolf Müller und beweisen ihre Vielfalt einmal mehr, indem sie traditionelle nilotische Gesangselemente und kenianische Nyatiti-Lauten mühelos in die Art-Ambient-Klänge verwandeln, die in Europas Bars und Clubs Selbstläufer sind. Auf Vinyl ist die Platte weitgehend ausverkauft. Alle Alben sind jedoch nach wie vor bei sämtlichen Streaminganbietern zu finden.

The Nile Project:
http://nileproject.org/

Katharina Wilhelm Otieno ist Redakteurin bei E+Z/D+C.
euz.editor@dandc.eu