Versöhnung
Keine Gerechtigkeit ohne Erinnerung
Die Kambodschaner leiden noch immer unter den Folgen der grausamen Geschichte ihres Landes. Unter dem Diktator Pol Pot, der das Land von 1975 bis 1979 beherrschte, wurden die meisten Menschen auf die eine oder andere Art zu Opfern. Viele wurden umgebracht, andere verhungerten. Zwangsarbeit und Zwangsehen waren weit verbreitet, und ein Großteil der Menschen wurde von ihren Familien getrennt.
1997, nach Jahren der Untätigkeit, bat die kambodschanische Regierung die UN um Hilfe, um den Anführern der Roten Khmer den Prozess zu machen. Erst neun Jahre später, nachdem zahlreiche Hürden genommen waren, nahmen die Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia (ECCC) die Arbeit auf. Die Prozesse dort laufen noch immer.
Das besser unter dem Namen Khmer-Rouge-Tribunal bekannte Gericht bietet den Überlebenden die Chance auf Wahrheit und Gerechtigkeit, indem die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Ziel ist es, die Erinnerung wachzuhalten und die Wiederkehr eines mörderischen Regimes zu verhindern. „Das Tribunal fördert Versöhnung und bietet Kambodschanern gleichzeitig die Möglichkeit, ihre Geschichte aufzuarbeiten“, sagt Neth Pheaktra, ein Sprecher des von den UN unterstützten Gerichts. Zudem profitiere das Justizsystem davon, da nationale Versöhnung und Rechtsstaatlichkeit gefördert würden.
Im vergangenen November bestätigte das Gericht in einem Berufungsverfahren die lebenslangen Haftstrafen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit für die Khmer-Rouge-Anführer Nuon Chea (90 Jahre) und Khieu Samphan (85). In einem weiteren Verfahren wird den beiden Genozid an der vietnamesischen und der muslimischen Minderheit in Kambodscha zur Last gelegt, außerdem Zwangsverheiratungen und Vergewaltigungen.
Bisher ist nur ein weiterer Khmer-Rouge-Anführer verurteilt worden. Kaing Guek Eav, alias Duch, war der Chef des berüchtigten S21-Gefängnisses in der Hauptstadt Phnom Penh und verantwortlich für den Tod von 14 000 Gefangenen. Auch er muss lebenslang hinter Gitter.
Manche hochrangige Khmer Rouge entkamen durch ihren Tod der Gerechtigkeit. „Bruder Nummer eins“ Pol Pot starb 1998. Der ehemalige Außenminister Ieng Sary und seine Frau, Sozialministerin Ieng Thirith, starben 2013 beziehungsweise 2015. Beide standen auf der Liste der Angeklagten des Tribunals.
„Wichtiger Mechanismus“
Yun Bin, der heute 62 Jahre alt ist, ist dem Tod unter den Roten Khmer nur knapp entkommen. Er wurde auf einem der sogenannten Killing Fields mit einer Axt geschlagen, bis er das Bewusstsein verlor, und dann in einen Brunnenschacht geworfen. Doch er überlebte. „In dem Brunnen lagen lauter Tote. Ihre Körper waren aufgedunsen und voller Würmer“, erinnert er sich.
Die Soldaten warfen eine Granate in den Brunnen, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, die noch nicht tot waren und nach Hilfe schrien. Die Granate verletzte Yun aber nicht, und er entkam aus dem Schacht, indem er Leichen übereinander stapelte. „Ich haben die Seelen der Toten um Hilfe gebeten, aus dem Brunnen zu kommen, und ihnen versprochen, nach Gerechtigkeit für sie zu suchen.“ Jetzt ist Yun als Zivilpartei an den Prozessen beteiligt.
Es steht die Frage im Raum, ob die Verurteilung einer Handvoll Verantwortlicher aus Sicht der Opfer ausreichend ist. Chhang Youk, der Leiter des Documentation Center of Cambodia (DC-Cam) räumt ein, dass das Tribunal keine allumfassende Lösung sei, sieht es aber als „wichtigen Mechanismus“ an, um die Notwendigkeit der Beachtung der Menschenrechte zu verdeutlichen. „Kambodscha leidet immer noch unter der Khmer-Rouge-Katastrophe. Wir sind die Kinder der Opfer und der Täter“, sagt er. Chhang sammelt und archiviert seit 30 Jahren Dokumente, die im Zusammenhang mit der Gewaltherrschaft stehen.
DC-Cam ist eine NGO, die sich Aufklärung und Information über die Khmer Rouge auf die Fahnen geschrieben hat. Sie ist außerdem Anlaufstelle für Kambodschaner, die nach Informationen über verschwundene Familienmitglieder suchen. Laut Chhang sind rund 1 Million Namen erfasst. „Wir kommen auch zu Menschen auf dem Land, die noch nach verlorenen Verwandten suchen, aber nicht einfach in die Stadt kommen können.“
Trauma und Heilung
Yun leidet aufgrund seiner Erlebnisse unter einem Trauma. „Ich erinnere mich noch immer an alles; es kommt ständig hoch. Ich kann es nicht vergessen, und das macht mich krank“, sagt er. „Ich nehme jeden Tag Medikamente.“ Hilfe bekommt Yun von der Transcultural Psychosocial Organization (TPO), einer lokalen NGO, die vom Zivilen Friedensdienst der GIZ unterstützt wird (siehe Artikel hierzu).
TPO arbeitet seit 2007 eng mit dem Khmer-Rouge-Tribunal zusammen. Die Organisation hilft traumatisierten Zeugen und zivilen Nebenklägern. Nach ihrer Überzeugung ist für die Heilung von Traumata und Versöhnung viel Zeit nötig und mehr als nur vergeltende Gerechtigkeit.
Der klinische Psychologe Bun Lemhuor erklärt, wie TPO mit Betroffenen arbeitet: „Wir helfen ihnen, den psychischen Druck abzubauen. Wir begleiten Zeugen auch im Gericht, wenn ihre Aussage sie emotional überfordert.“
Zum Angebot gehörten auch Selbsthilfegruppen für Traumatisierte. „Wir lassen sie ihr Leid teilen und wenden verschiedene Methoden an, um ihr Trauma zu heilen.“ Bun zufolge kann auch die Religion helfen, inneren Frieden zu finden. „Sie beten für die Toten zu Buddha und bitten darum, keine Rache zu üben.“ Das Tribunal habe die TPO-Gruppen als Maßnahme zur Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer anerkannt.
Kollektive Entschädigung
Am Gericht gibt es eine Victims Support Section (VSS), die eine adäquate Beteiligung der Opfer an den Gerichtsverfahren sicherstellen soll. Nach Angaben von VSS-Chef Hang Vannak sind rund 4000 Zivilparteien und 4000 Nebenkläger am Fall 002 beteiligt, der Nuon Chea und Khieu Samphan betrifft. „Wir informieren sie in Foren, Workshops und Trainings“, erklärt Hang.
Die VSS koordiniert auch die Entschädigungsmaßnahmen. „Wir arbeiten mit den Opfern zusammen, um Projekte zur Wiedergutmachung zu entwerfen und umzusetzen und auch außergerichtliche Maßnahmen, die ihnen und der jungen Generation zugutekommen.“ Dabei gehe es um moralische, kollektive Entschädigung, nicht um individuelle. Die VSS arbeitet sowohl mit Behörden als auch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen, um die Erinnerung zu pflegen, Geschichten von Überlebenden zu sammeln und Gedenkstätten einzurichten.
„Was das Tribunal macht, ist eher als Heilungsprozess denn als ultimative Lösung zu sehen“, sagt Hang. „Das Gericht kann nicht alleine eine Übergangsjustiz aufbauen.“ In seinen Augen muss Heilung ganzheitlich erfolgen und Bereiche wie Psychologie, Bildung und Gesundheit einschließen.
Ursprünglich sollte das Khmer-Rouge-Tribunal nur ein paar Jahre dauern. Derzeit laufen immer noch Verfahren in den Fällen 002 sowie 003 und 004 gegen vier weitere Khmer-Rouge-Anführer. Niemand weiß, wie lange die Arbeit des Gerichts noch dauern wird. Es kommt darauf an, wie lange die Ermittler brauchen, wie viele weitere Verdächtige angeklagt werden, wie viele Zeugen gehört werden und wie viele Berufungsverfahren es gibt. Die kambodschanische Regierung will ein Dokumentationszentrum einrichten, um alle Gerichtsdokumente aufzubewahren.
Wenn das Tribunal seine Arbeit abgeschlossen hat, hofft Chhang darauf, dass der König als Repräsentant des kambodschanischen Volkes die Gebeine der Khmer-Rouge-Opfer verbrennt. „Und es sollte einen nationalen Gedenktag geben. Das wäre ein wichtiges Symbol.“
Sun Narin ist ein kambodschanischer Journalist und lebt in Phnom Penh.
snnarin@gmail.com