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Im Einparteienstaat China wächst die Zivilgesellschaft. Noch lässt die Regierung nur begrenzt Engagement zu, doch das könnte sich bald ändern. Gute Chancen haben vor allem Initiativen, die praktische Lösungen bieten und mit Effizienz überzeugen. Entwicklungshilfe kann die Bürger unterstützen, indem sie auf Institutionalisierung drängt und Methodenwissen vermittelt.

Von Peter Patze

Wirtschaftlich top, politisch ein Flop – so könnte das Resümee der deutschen Medienberichterstattung über China lauten. Die Wirklichkeit ist natürlich viel facettenreicher. Und so mag es angesichts der Berichte über die Allmacht der Regierungspartei KP, über korrupte Lokalverwaltungen und zensierte Me­dien zwar auf den ersten Blick schwer vorstellbar sein, dass hier die Zivilgesellschaft wächst. Doch die KP erlaubt und fördert tatsächlich seit rund 10 Jahren kontrollierte Bürgerbeteiligung.

Das rasante Wirtschaftswachstum der vergangenen 30 Jahre hat enorme soziale und ökologische Brüche in der chinesischen Gesellschaft hinterlassen. Die Regierung scheint zu der Einsicht gekommen zu sein, dass sie ihr zunehmend gespaltenes Land nicht mehr allein von oben regieren kann. Kurzum: Die Bürger sollen mehr Eigenverantwortung übernehmen, weil der Staat allein sich den Problemen nicht mehr gewachsen fühlt.

Noch ist das Bürgerengagement in China sehr regierungsnah. Häufig sind es die Lokalverwaltungen selbst, die Beteiligungsprozesse initiieren und durchführen. Westliche Beobachter stoßen sich oft daran, denn Bürgerinitiativen sind nach ihrem Verständnis auch dazu da, Entscheidungen gegebenenfalls gegen den Willen einer Verwaltung oder einer Partei durchzusetzen. Auch die Hürden für Engagement sind in China weiterhin hoch. Die meisten Lokalregierungen haben sich bisher noch nicht klar zur Bürgerbeteiligung bekannt.

Dennoch gibt es mittlerweile zahlreiche gute Beispiele von lokalen Bürgerinitiativen – wie Nachbarschaftshilfe für ältere Menschen, Anhörungen bei Stadtentwicklungsprojekten, das Entrümpeln von Feuerwehrzufahrten oder externe Mediation bei Nachbarschaftskonflikten. Auch die Zahl der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) steigt rasant. Glaubt man den Statistiken des Ministeriums für Zivilgesellschaft, dann sind es heute ganze 30 Mal so viele wie noch 1978. Damals zählte das Ministerium rund 6000 Organisa­tionen, 2006 waren es bereits mehr als 186 000. Relativ neu ist auch: Immer mehr Lokalverwaltungen kaufen Dienstleistungen bei NGOs ein. Das ist beachtlich, bedeutet es doch indirekt, dass der Staat NGOs als Akteure gesellschaftlicher Entwicklung anerkennt und sogar zu ihrer Finanzierung beiträgt.

Bürger unter Kontrolle

Grundsätzlich tut sich die Regierung aber noch schwer damit, einen wirklich öffentlichen Raum für unabhängige Vereine, Initiativen und Verbände zu dulden. Schon die Registrierungsregeln für NGOs sind so verworren und restriktiv, dass sie eine ernsthafte Hürde darstellen. Viele NGOs arbeiten deshalb lieber ohne offizielle Registrierung oder lassen sich als Unternehmen eintragen.

Die Registrierung erfolgt zudem immer nur lokal, da es landesweit wirkende NGOs offiziell nicht geben darf. Vermutlich fürchtet die KP, aus solchen Organisationen könnten eines Tages landesweite Oppositionsgruppen erwachsen. So ließe sich auch erklären, warum die Partei etliche NGOs von den Sicherheitsdiensten überwachen lässt und in jeder von ihnen Mitglieder unterzubringen versucht. Des Weiteren schränken Lokalregierungen vielerorts die Anzahl von NGOs ein oder begrenzen ihre Möglichkeiten, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben.

Wie groß die Spielräume für Bürgerbeteiligung tatsächlich ausfallen, ist daher von Ort zu Ort sehr unterschiedlich und schwankt mit der politischen Großwetterlage. Verschiedene Faktoren nehmen darauf Einfluss. Relevant sind vor allem:
– Viel hängt vom zuständigen Funktionär ab. Die KP stellt bei weitem keine homogene Einheit dar – vom umweltbewussten Pragmatiker über den liberalen Sozialdemokraten bis hin zum konservativen Maoisten findet sich in ihren Reihen so ziemlich jede politische Ausrichtung. Wichtig ist daher immer der örtliche Parteisekretär. Er entscheidet letztlich über das Wohl und Wollen eines Beteiligungsprozesses.
– Soziale und ökologische Brennpunkte sind schlechte Voraussetzungen für Projekte. Wer beispielsweise Initiativen in Armutsvierteln oder im Umkreis von umstrittenen Müllverbrennungsanlagen organisieren möchte, muss oft mit viel Gegenwind rechnen. Denn viele örtliche Politiker fürchten, dass offener Protest entstehen könnte. Ihr oberstes Ziel ist jedoch, für soziale Stabilität und Harmonie zu sorgen. Davon und vom Wirtschaftswachstum der Region hängen schließlich ihre Beförderungschancen ab. Politiker rotieren alle drei bis fünf Jahre auf einen neuen Posten.
– Bürgerbeteiligung lässt sich weiterhin nur in enger Abstimmung mit den Lokalverwaltungen und der KP durchführen. Deshalb brauchen aktive Bürger und NGOs gute Kontakte in die staatlichen Strukturen. Wer versucht, Beteiligungsprozesse anzuschieben, die staatlichen Interessen zuwiderlaufen, wird kaum weiterarbeiten dürfen.

Letztlich steht und fällt der Erfolg einer chinesischen NGO vor allem mit den Dienstleistungen, die sie anbieten kann. Um von der Führung akzeptiert zu werden und einigermaßen frei arbeiten zu können, muss sie Dinge effizienter regeln oder Leistungen effizienter anbieten können als der Staat. Beispielsweise, indem sie akute Nachbarschaftskonflikte durch Mediationsverfahren löst. Gleichzeitig muss sie aber natürlich von der Bevölkerung als unabhängiger Spieler akzeptiert sein.

Hin zu mehr Emanzipation

Das größte Problem für die Entwicklung einer freien und emanzipierten Zivilgesellschaft liegt neben dem restriktiven politischen System vor allem in mangelnder Erfahrung und Fachwissen. Wegen Chinas totalitärer und paternalistischer Vergangenheit entwickeln die Bürger nur wenig Eigeninitiative und folgen oft blind den Anordnungen der Lokalverwaltungen. Sie sehen vor allem den Staat in der Pflicht und trauen es auch nur ihm zu, die gesellschaftlichen Probleme zu lösen.

Diese tradierten Verhaltens- und Einstellungsmuster aufzubrechen, wird viel Zeit brauchen – wohl mindestens zwei Generationen. Um China beim Aufbau der Zivilgesellschaft zu helfen, muss man deshalb anderswo ansetzen. Im Augenblick ist vor allem zweierlei wichtig:
– Institutionen aufzubauen, die langfristig arbeiten, sowie
– den Austausch von Erfahrungen und Fachwissen zu fördern.

Für Ersteres wären interdisziplinäre Institute wichtig, die sich systematisch mit dem Thema Bürgerbeteiligung beschäftigen. Wünschenswert wäre zum Beispiel ein Pendant zur deutschen „Stiftung Mitarbeit“, das Fachwissen bündelt, systematisch Netzwerke bildet und durch Trainings und Publikationen Partizipation fördert. Diese Institute sollten zunächst bei chinesischen Universitäten angesiedelt sein, da Hochschulen bei ihrer Arbeit leichter Theorie und Empirie verbinden. Für die Anbindung an Universitäten spricht auch, dass diese in China durch den Staat finanziert werden und dessen Vertrauen genießen. Gleichzeitig genießen sie ein hohes Ansehen in der Bevölkerung. Zudem arbeiten die akademischen Mitarbeiter methodisch, verfügen in der Regel über gute Netzwerke und bessere Fremdsprachenkenntnisse. Dies ist wichtig, damit die Institute Kontakte mit dem Ausland aufbauen und eine Vorreiterrolle in China einnehmen können.

Um den Austausch von Fachwissen und Erfahrung zu stärken, ist es vor allem wichtig, innovative Kommunikationsmethoden einzuführen. Verfahren wie die Open Space Technology, Zukunftskonferenz oder Media­tion, die in China bisher kaum bekannt sind, tragen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme bei und stärken Partizipation. So lassen sich mit Hilfe der Open Space Technology gut die Bedürfnisse und Ideen der Bürger erfassen; auf Zukunftskonferenzen treffen sich Menschen aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen, um gemeinsam Pläne für ihre Stadt zu entwickeln; und bei Mediationen hilft eine neutrale Partei den Konfliktgruppen, ihren Konflikt einvernehmlich zu lösen. Auch in Unternehmen, Schulen und sogar in der Politik werden diese Methoden eingesetzt. Sie bilden zudem das Fundament für weiterführende Formen der Beteiligung, wie zum Beispiel Bürgerhaushalte, partizipative Bauleitplanungen oder kommunale Mediationsstellen. Bei all diesen Punkten kann Entwicklungszusammenarbeit ansetzen: Sie kann sich für den Aufbau von Instituten, die zum Thema Bürgerbeteiligung arbeiten, einsetzen. Außerdem kann sie innovative Kommunikationsmethoden und Beteiligungsmodelle einführen und etablieren helfen. Auch der Auf- und Ausbau von Netzwerken ins Ausland ist sehr wichtig. Indem Entwicklungsarbeit die Fähigkeiten der chinesischen NGOs stärkt, ist sie ihnen vielleicht die größte Stütze.

In Sachen Bürgerbeteiligung steht China heute ungefähr dort, wo die Bundesrepublik Deutschland zu Beginn der 1960er Jahre stand. Mit dem großen Unterschied, dass es in der Volksrepublik weder faire Kommunalwahlen noch unabhängige Medien, Gerichtshöfe oder Bürgerentscheide gibt. Dementsprechend spielt auch die junge chinesische Zivilgesellschaft in der Politik ihres Landes noch eine untergeordnete Rolle. Doch die letzten 20 Jahre geben Hoffnung, dass sie in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. In dem Maße, in dem ihre Kapazitäten wachsen, werden NGOs wohl auch von Staat, Partei und Gesellschaft ernster genommen.

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