Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Auf dem Weg zur multipolaren Weltordnung

Im Zuge des Aufstiegs Chinas müssen die USA und Europa ihre Außenpolitik anpassen, wenn sie nicht erheblich an geopolitischem Einfluss verlieren möchten. Länder des globalen Südens könnten von der neuen Weltordnung profitieren, indem sie sich zu mehreren Seiten hin ausrichten.
Humoristische Darstellung von Joe Biden, Xi Jinping und Wladimir Putin in Valencia, Spanien. picture-alliance/EPA/Juan Carlos Cardenas Humoristische Darstellung von Joe Biden, Xi Jinping und Wladimir Putin in Valencia, Spanien.

Die Machtverhältnisse zwischen den politischen Systemen dieser Welt verschieben sich. Der Trend geht zu einer multipolaren Weltordnung, das heißt, geopolitische Macht wird zunehmend auf mehrere Akteure verteilt sein. Länder und Institutionen werden sich im Zuge dieser Entwicklung neu positionieren müssen. Zu diesem Ergebnis kommen wir in unserem Buch „Global Perspectives on Megatrends“ (Kuhn mit Margellos 2022). Gemeinsam mit Fachleuten aus Wissenschaft und politischer Analyse aus verschiedenen Weltregionen befassen wir uns darin mit geopolitischen Trends und ihrer Bedeutung für multilaterale Zusammenarbeit.

Das Manuskript für dieses Buch haben wir kurz nach Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine abgeschlossen. Es zeichnet sich ab, dass unsere Einschätzungen zur Herausbildung einer multipolaren Weltordnung zutreffen. Der bisherige Verlauf des Krieges und seine Konsequenzen zeigen, wie unterschiedlich die Interessen der geopolitischen Mächte derzeit gelagert sind. Bisher ist es den USA und der EU nicht gelungen, Russland international vollständig zu isolieren, und dies bleibt auch bis auf Weiteres unrealistisch. China, Indien, Südafrika und andere Staaten des globalen Südens haben sich dem Sanktionsregime des Westens nicht angeschlossen. Immerhin hat die UN-Vollversammlung im März mit großer Mehrheit eine Resolution zur humanitären Situation in der Ukraine angenommen, die sich deutlich gegen Russland richtet (siehe Imme Scholz auf www.dandc.eu).

Die gestärkte Zusammenarbeit Europas und der Vereinigten Staaten wird Putins Regime zwar mittelfristig erheblich schaden, und sie könnte auch den Aufstieg Chinas erschweren. Dennoch werden sich EU und USA damit abfinden müssen, dass der globale Trend zur multipolaren Weltordnung ihren Einfluss in vielerlei Hinsicht begrenzen wird. Diese Entwicklung diskutieren mehrere Denkfabriken unter dem Schlagwort „hegemoniale Verschiebung“.

Auf hochrangigen Konferenzen spielt das Thema eine zentrale Rolle. Der Munich Security Report 2020 der Münchner Sicherheitskonferenz beschäftigte sich unter dem Titel „Westlessness“ mit der Krise des Westens. Und das Bloomberg New Economy Forum, das im November 2021 in Singapur stattfand, thematisierte den wachsenden Anteil Asiens am weltweiten Bruttoinlandsprodukt (BIP) und seine zunehmende Börsenkapitalisierung.

Neue Investitionen in Infrastruktur

Auch im globalen Süden wird sich der Einfluss des Westens voraussichtlich verringern. Zwar verkündeten die G7-Staaten während ihres Gipfeltreffens auf Schloss Elmau im Juni 2022, stärker in globale Infrastruktur investieren zu wollen. Unter anderem möchten sie Entwicklungs- und Schwellenländer auf dem Weg in die Klimaneutralität unterstützen und die Gesundheitsinfrastruktur in Afrika stärken. Als Antwort auf das große Infrastrukturprogramm Chinas, die sogenannte „neue Seidenstraße“, kommt dies allerdings reichlich spät. Chinas Einfluss in vielen Entwicklungsländern lässt sich so kaum zurückschrauben (zur „digitalen Seidenstraße“ siehe Charles Martin Shields auf www.dandc.eu).

Die Entwicklungsländer selbst könnten von diesen Veränderungen durchaus profitieren. Parag Khanna, indisch-amerikanischer Politikwissenschaftler und führender Berater für globale Strategie, schrieb, weder Amerika noch China gingen aus dem derzeitigen globalen Wettstreit als Gewinner hervor – sondern jene Länder, die sich in mehrere Richtungen hin ausrichteten. Beispielsweise versuchen mehrere asiatische Länder, darunter Singapur und Malaysia, sowohl mit den USA als auch mit China Beziehungen zu knüpfen, diese Verbindungen gegeneinander abzuwägen und so den größtmöglichen Nutzen für sich selbst zu erzielen.

Mehr Aufmerksamkeit für China

Seit der Präsidentschaft Donald Trumps ist China in der nationalen Sicherheitsstrategie der USA ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Trump und seine „Make America Great Again“-Strategie haben die Konflikte verschärft. Der Handelskrieg zwischen den beiden Staaten gipfelte in steigenden Zöllen und dem Konflikt um die Welthandelsorganisation (WTO – World Trade Organization). Diese hatte den USA bescheinigt, die globalen Handelsregeln verletzt zu haben. Zeitweise schien es, als bewältigte China die Covid-19-Pandemie erfolgreicher als die USA und Europa. Allerdings könnte das Land mittelfristig einen hohen wirtschaftlichen Preis für seine Null-Covid-Strategie gezahlt haben. Die massiven Freiheitsbeschränkungen im Frühling 2022 haben sein Image, speziell jenes der Wirtschaftsregion Shanghai, schwer belastet.

Die derzeitige US-Regierung unter Joe Biden bemüht sich, die Vereinigten Staaten wieder stärker am Multilateralismus zu beteiligen und die Beziehungen zur EU zu verbessern. Gegenüber China signalisieren die USA, dass sie keine Co-Führung in globalen Angelegenheiten akzeptieren werden – mit der bemerkenswerten Ausnahme der Klimapolitik. Es scheint jedoch unrealistisch, die Zusammenarbeit mit China auf den Klimaschutz zu beschränken.

China hat in den vergangenen Jahrzehnten seine Investitionen in verschiedenen Sektoren ausgeweitet und sich bemüht, neue Allianzen zu schmieden. Insbesondere im globalen Süden war es dabei durchaus erfolgreich. Auch setzt sich China stark für den Renminbi als Währung des internationalen Handels ein und versucht, seine Aktienmärkte zu erweitern. Diese Bemühungen, dem US-Dollar Einfluss abzuringen, werden zu neuen Konflikten führen. Schließlich ist die hegemoniale Stellung der USA weitgehend auf die Dominanz des US-Dollars im internationalen Handel und ihre riesigen Aktienmärkte zurückzuführen.

Aufstieg wird vorerst noch anhalten

Für die Zukunft ist zu erwarten, dass Chinas Aufstieg noch einige Jahre andauern wird. Er wird aber nicht unangefochten bleiben, insbesondere nicht von Chinas Nachbarn. Auch kann der Taiwan-Konflikt die Beziehungen zu den USA überschatten. In der Wissenschaft besteht kein Konsens dazu, inwiefern die künftige Multipolarität instabiler sein wird als etwa die Bipolarität des Kalten Krieges oder die Unipolarität der USA in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Die NATO wird einen starken Aufschwung erleben, und die USA werden sich wieder stärker in der Außenpolitik engagieren, insbesondere in Europa und Asien. Die EU ist sich in ihrer Solidarität mit der Ukraine weitgehend einig, aber die Abkopplung von Russland wird ihren Tribut fordern. Die Energiepreise werden steigen, aber die Anstrengungen zur Beschleunigung der Energiereformen werden sich langfristig auszahlen.

Die G20-Treffen werden weiter an politischer Aufmerksamkeit gewinnen, trotz der schwierigen Frage der weiteren Beteiligung Russlands. Auch der Westen wird dieses Dialogformat nicht aufgeben wollen. Der Multilateralismus ist also nicht im Niedergang begriffen, sondern befindet sich vor dem Hintergrund einer entstehenden multipolaren Weltordnung im Wandel.

Harte Klimaverhandlungen

Die Vereinten Nationen werden ihre Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsagenda erfolgreich weiter ausbauen und vertiefen. Die Verhandlungen auf den Klimagipfeln werden allerdings schwierig bleiben. Eines der kontroversesten Themen wird sein, inwiefern gefährdete Länder Ansprüche auf finanzielle Entschädigungen stellen können für Verluste, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind. Dies wird bereits auf der bevorstehenden Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP27) in Ägypten im November dieses Jahres zu Auseinandersetzungen führen.

Noch haben die USA und die EU große Gestaltungsmacht in vielen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit. Um sie zu erhalten, sollten sie:

  • ihre Wirtschaftsstrukturen im Sinne eines Green New Deal nachhaltig modernisieren,
  • ihre Außenpolitik an die Bedingungen einer neuen, multipolaren Weltordnung anpassen und dafür insbesondere
  • eine kluge Strategie zum Aufbau von Allianzen mit anderen starken Volkswirtschaften im Wandel entwickeln.

Gelingt ihnen dies, stehen die Chancen gut, dass Russland aus dem Krieg gegen die Ukraine geopolitisch, wirtschaftlich und militärisch stark geschwächt hervorgeht. Auch Chinas Chancen, die Weltwirtschaft und -politik zu dominieren, könnten dann sinken.


Literatur
Kuhn, B. M., Margellos, D. L., 2022: Global perspectives on megatrends. The future as seen by analysts and researchers from different world regions. Hannover, Ibidem Publishers. New York, Columbia University Press.
https://bit.ly/megatrends-book


Berthold M. Kuhn ist habilitierter Politikwissenschaftler. Er arbeitet an der Freien Universität Berlin und als Berater für internationale Organisationen und Denkfabriken.
berthold.kuhn@fu-berlin.de

Dimitrios L. Margellos studiert Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
dimitriol35@zedat.fu-berlin.de

Governance

Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.