Politische Unruhen

Die Menschen wollen in Frieden und Würde leben

Jüngste Proteste sind in Chile und Bolivien aus ganz unterschiedlichen Anlässen entstanden. Angetrieben werden sie in beiden Ländern aber nun von gesellschaftlicher Ausgrenzung, exzessiver Ungleichheit und der Missachtung grundlegender Menschenrechte.
Augenverbände sind in Chile ein Symbol des Menschenrechtsaktivismus. Rotter/picture-alliance/NurPhoto Augenverbände sind in Chile ein Symbol des Menschenrechtsaktivismus.

In Chile ging es am 14. Oktober los, als Studierende sich gegen gestiegene U-Bahn-Fahrpreise wehrten. Im ganzen Land gingen Menschen auf die Straßen, beklagten sich über hohe Lebenshaltungskosten und wachsende Ungleichheit. Nach Jahrzehnten marktorthodoxer Politik sind Nahverkehr, Gesundheitswesen und Bildung für Massen von Menschen, die nur niedrige Löhne oder geringe Renten bekommen, unerschwinglich.

Metrostationen und Schulen wurden besetzt und Barrikaden blockierten Straßen. Es gab Demonstrationen, Boykotte und Streiks. Vandalismus beschädigte Behörden, Kirchen und Geschäfte. Das Land stand plötzlich still. Am 19. Oktober verkündete Präsident Sebastián Piñera, der selbst der reichen Elite angehört, den Notstand und rief das Militär zu Hilfe. Seine Aussage, Chile befinde sich im Krieg, stieß auf breite Opposition. Demonstranten skandierten Slogans wie: „Wir sind nicht im Krieg, wir halten zusammen.“

In Bolivien brachen die Proteste aus, als Präsident Evo Morales nach der dritten Amtszeit am 20. Oktober des Wahlbetrugs bezichtigt wurde. Die Sachlage ist verwirrend. Morales war der erste indigene Präsident seines Landes und regierte fast 14 Jahre lang, in denen seine inklusive Politik politische Stabilität schuf. Dennoch ist Kritik an ihm berechtigt, denn er kandidierte abermals, obwohl die von ihm selbst eingeführte Verfassung eine weitere Amtszeit ausschloss und eine Volksabstimmung diese Regelung ausdrücklich nicht zu seinen Gunsten modifiziert hatte. Am Ende entschied das oberste Gericht, er habe ein Menschenrecht auf die Kandidatur. Offensichtlich umging er Amtszeitbegrenzungen, wie sie viele Länder praktizieren und Politiker mit autoritären Neigungen gern aushebeln.

Andererseits war Morales aber der klare Favorit im ersten Wahlgang. Auffällig wurden die Manipulationen, als die Berichterstattung über die Auszählung plötzlich unterbrochen wurde, und er danach so weit vorne lag, dass ein zweiter Wahlgang nicht mehr nötig schien. Er hätte den zweiten Wahlgang indessen gut gewinnen können, denn er bleibt recht beliebt.

Unter dem Druck von Demonstrationen und nach einer Ermahnung durch das Militär trat Morales am 10. November zurück. Viele Beobachter erinnerte das an einen typischen Militärputsch. Morales floh nach Mexiko, und kein Spitzenpolitiker seiner Partei konnte der Verfassung gemäß die Nachfolge antreten. Stattdessen erklärte sich Jeanine Áñez, eine Senatorin, die der rechtsgerichteten Opposition angehört, von den Sicherheitskräften unterstützt, aber ohne die eigentlich nötige Bestätigung der Gesetzgeber, zur Übergangspräsidentin. Protestiert wird seither gegen sie. Sie hat Repression angeordnet und per Dekret sogar die strafrechtliche Verantwortung von Soldaten und Polizisten ausgeschlossen. Auch dieser Erlass erinnerte an Diktatur, wurde aber später zurückgenommen.

In Chile und Bolivien wurden Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt. Obendrein wurde scharf geschossen. Als dieser Kommentar Anfang Dezember entstand, waren mindestens 23 Bolivianer und 19 Chilenen gestorben. Mehr als 600 Bolivianer und 2000 Chilenen waren festgenommen worden. In Chile hatten mehr als 200 Menschen wegen Gummigeschossen ihr Augenlicht verloren. Augenverbände sind nun Symbole des Menschenrechtsaktivismus.

Michelle Bachelet, die UN-Kommissarin für Menschenrechte und frühere chilenische Präsidentin, hat Piñera und Añez aufgerufen, sensibel auf die Unruhen zu reagieren und internationale Normen einzuhalten. Auch Human Rights Watch und Amnesty International haben Besorgnis artikuliert.

In beiden Ländern kreisen die Proteste nun um Inklusion, Demokratie und Menschenrechte. Gefordert werden freie und faire Wahlen sowie ein Leben in Frieden und Würde. Abgelehnt werden geschlechtsspezifische Gewalt, die Ausgrenzung der Indigenen und gravierende soziale Ungleichheit.

Piñera hat mittlerweile eine neue Verfassung versprochen. Wenn es gut läuft – was keineswegs sicher ist –, wird Chile nächstes Jahr über fundamentalen Wandel abstimmen. In Bolivien hat Añez Wahlen versprochen. Es ist aber weder klar, wer die Linkspartei von Morales anführen wird, noch, dass die Wahlen wirklich frei und fair sein werden.


Katie Cashman arbeitet für UN Habitat und lebt in Santiago de Chile. In diesem Beitrag äußert sie ihre persönliche Meinung.
kcashman23@gmail.com