Lateinamerika
Dysfunktionale Gewaltenteilung
Brasiliens Demokratie steckt in einer tiefen Krise. Laut José Álvaro Moisés von der Universität von São Paulo ist der Prozentsatz derjenigen, die Diktatur befürworten, 2016 von 15 Prozent auf 20 Prozent gestiegen.
Gestützt von Konservativen und Liberalen ist seit über einem Jahr ein unpopulärer Präsident an der Macht: Michel Temer. Er war Vizepräsident unter Dilma Rousseff und folgte der Sozialistin von der Arbeiterpartei (PT) an der Staatsspitze, als diese wegen Manipulation von Haushaltszahlen des Amtes enthoben wurde. Temers harte Sparpolitik unterhöhlt nun die Sozialpolitik seiner Vorgängerin.
Pikanterweise steht der neue Präsident selbst im Verdacht der Korruption – und die Belege, die gegen ihn vorliegen, wiegen schwerer als alles, was Rousseff vorgeworfen wurde. Dennoch unterstützen ihn im Parlament genau die liberalen und konservativen Kräfte, die Rousseff zu Fall brachten. Diese Politikerin hatte allerdings deren Kandidaten, Aécio Neves, in den Präsidentenwahlen 2014 nur knapp geschlagen.
Rousseff war geschwächt in den Wahlkampf gezogen, denn verschiedene Korruptionsskandale hatten die PT erschüttert. Obendrein hatten Schüler und Studenten der Mittelschicht im Jahr zuvor massenhaft protestiert – gegen Misswirtschaft, die hohen Kosten der Fußball-Weltmeisterschaft und steigende Buspreise. Parteisymbole waren dabei unerwünscht, und Angehörige der unteren Schichten blieben den Demonstrationen fern.
Die Präsidentin versprach dann einen „großen Pakt“ für ein besseres Brasilien. Vor allem das Charisma ihres Mentors und Vorgängers Lula da Silva dürfte ihr zur Wiederwahl verholfen haben.
Mit der anhaltenden Rezession propagierten Vertreter aus Wirtschaft und Finanzwelt indessen die These, dass erneutes Wachstum mit dieser Präsidentin unmöglich sei. Abermals gab es riesige Demonstrationen, und im Sommer 2016 waren Rousseffs Widersacher am Ziel: Sie wurde des Amts enthoben (siehe hierzu E+Z/D+C 2016/06, S. 11).
Das Land ist nun tief gespalten. PT-Anhänger werden herablassend „Petralhas“ (Panzerknacker) genannt, während diejenigen, die gegen Rousseff auf die Straße gingen, als „Coxinhas“ verspottet werden. So heißen die frittierten Teigtaschen, die Polizisten gern im Dienst verspeisen.
Teile der politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten, die eifrig Rousseffs Sturz betrieben, stehen nun treu zu Temer. Er wurde bis heute nicht angeklagt, obwohl er nachweislich tiefer in die Korruptionsaffären verwickelt ist als Rousseff oder Lula, der mittlerweile zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Da seine Inhaftierung das Land allerdings traumatisieren würde, wurde dieses Urteil bislang nicht vollstreckt. Dass für Mitte-links-Politiker offenbar andere Regeln gelten als für einen Wirtschaftsliberalen wie Temer unterhöhlt das Vertrauen in den Staat.
In der Tat funktioniert die Gewaltenteilung in Brasilien seit langem nicht richtig. Die Justiz hat immer wieder exekutive oder legislative Aufgaben übernommen. Sie führte zum Beispiel per höchstinstanzlichem Urteil die gleichgeschlechtliche Ehe ein. Viele vermuten nun, die Verurteilung Lulas diene dazu, ihn von den Präsidentenwahlen im nächsten Jahr auszuschließen. Er würde offensichtlich gern wieder kandidieren und ist im Land weiterhin sehr beliebt.
Das Volk ist müde und schweigt. Die Straßen bleiben leer. Geschwächt durch die Korruptionsskandale und interne Querelen schafft die Opposition es nicht, Kräfte zu mobilisieren. Bisher verhält sich das Militär still. General Eduardo Villas Bôas, der ranghöchste Offizier der Armee, sagte kürzlich, der Ausweg aus der Krise liege „in den Händen der brasilianischen Staatsbürger, die bei den Wahlen 2018 die Richtung signalisieren können“.
In den Wahlumfragen liegt derzeit Lula vorn, gefolgt von dem ultrakonservativen Populisten Jair Bolsonaro, dessen extreme Positionen an Donald Trump in den USA oder Rodrigo Duterte auf den Philippinen erinnern. Gewalt und Kriminalität nehmen derzeit rasant zu, und das befeuert seine Kandidatur.
In diesem Chaos sucht das „Land des Unwägbaren“ irgendwie „Ordnung und Fortschritt“. Ohne ein konstruktives Zusammenspiel der politischen, wirtschaftlichen, gerichtlichen, medialen und bürgerlichen Kräfte ist das unmöglich.
Carlos Albuquerque arbeitet für das brasilianische Programm der Deutschen Welle in Bonn.
carlos.albuquerque@gmx.de