Strategien

Beyond Aid – neue Wege?

Entwicklungszusammenarbeit muss ihre Aufgaben neu definieren, weil die Rahmenbedingungen sich verändern. Als Ausdruck für Innovationserfordernisse und Reformideen gilt der Begriff Beyond Aid („über Entwicklungshilfe hinaus“).
Entwicklungspolitik braucht neue Strategien: Slum im indischen Bundesstaat Jharkhand. Heldur Netocny/Lineair Entwicklungspolitik braucht neue Strategien: Slum im indischen Bundesstaat Jharkhand.

Klassische entwicklungspolitische Themen sind immer noch aktuell und das Ziel einer Welt ohne Armut keineswegs erreicht. Gleichzeitig finden einschneidende Veränderungen statt: In den vergangenen Jahrzehnten nahm die Zahl der Empfängerländer deutlich ab. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2030 weitere 28 Länder mit einer Gesamtbevölkerung von 2 Milliarden Menschen aufgrund von Einkommenszuwächsen ihren Anspruch auf offizielle Entwicklungshilfe (Official development assistance – ODA) verlieren.

Andere Grundlagen des Politikbereichs verändern sich ebenfalls. Es geht nicht mehr allein darum, Armut zu bekämpfen, sondern es gilt, Herausforderungen wie Klimawandel, Ungleichheit und Sicherheit anzugehen. Aus diesem Grund hatten Severino und Ray bereits 2009 überspitzt vom „Ende der offiziellen Entwicklungshilfe“ („The end of ODA“) gesprochen. Seitdem hat sich die Diskussion über die Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) intensiviert. Unter EZ verstehen wir im engeren Sinne den Transfer von Ressourcen (Geld, Beratung, etc.) von reicheren zu ärmeren Ländern.


Was ist Beyond Aid?

Die Beyond-Aid-Debatte ist international vielfältig und steht stellvertretend für jedwede tatsächliche oder scheinbare Reform in diesem Bereich. Einige strukturbildende Merkmale lassen sich dennoch erkennen. Wir verstehen Beyond Aid als Sammelbegriff für den Wandel und relativen Bedeutungsverlust der offiziellen Entwicklungshilfe. Dieser Wandel zeigt sich konkret in vier Bereichen: Akteure, Finanzierung, Regulierung und Wissen.

  • Akteure: Die Zahl und Vielfalt der Akteure, die mit Entwicklungsländern kooperieren, steigt, längst sind es nicht mehr nur bi- und multilaterale Entwicklungsorganisationen. Weitere Akteure sind etwa Schwellenländer, die durch Süd-Süd-Kooperation aktiv sind. Fachministerien verschiedener Ländergruppen stehen in Bereichen wie Gesundheit, Energie und Wissenschaft in direktem Kontakt zueinander. Darüber hinaus bauen subnationale Akteure wie Städte Netzwerke mit ihren Kollegen in Entwicklungsländern auf. Hinzu kommen private Akteure: Unternehmen, Nichtregierungsorganisa­tio­nen oder kirchliche sowie philanthropische Stiftungen wie die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung.
  • Finanzierung: Gemessen an anderen Formen der Entwicklungsfinanzierung, nimmt die Bedeutung von ODA für viele Länder ab. Der größte Teil staatlicher Investitionen selbst in armen Entwicklungsländern stammt aus einheimischen Ressourcen. Allerdings bleiben Finanzhilfen für einige der ärmsten Länder auch weiterhin unverzichtbar. Dabei spielen private internationale Finanzströme (z. B. Auslandsdirektinvestitionen oder Überweisungen von Migranten) jedoch eine immer größere Rolle. Zudem schaffen innovative Finanzierungsmechanismen Anreize, private Quellen für Entwicklungszwecke zu nutzen. Dazu gehören globale Public Private Partnerships in bestimmten thematischen Bereichen wie Gesundheit und Klimaschutz. Schließlich können Finanzierungsquellen wie CO2-Zertifikate oder transnationale Steuern dazu beitragen, globale Herausforderungen zu meistern.
  • Regulierung: Politikkohärenz (Policy Coherence for Development) soll die verschiedenen Politikfelder der Geberländer auf Entwicklungsziele ausrichten. Alle Maßnahmen, sei es in der Landwirtschaft oder im Handel, sollten Entwicklung nicht behindern, sondern im besten Fall sogar befördern. Solche Ansätze bleiben wichtig, müssen aber an neue Bedingungen angepasst werden. Akteure der Entwicklungszusammenarbeit sind nicht mehr die Einzigen, die Kohärenz für ihre Ziele verlangen, und Konflikte zwischen einzelnen Entwicklungszielen werden zunehmen (z. B. Armutsreduzierung versus Klimaschutz). Die Ausdifferenzierung unter Entwicklungsländern wirft auch die Frage auf, mit Blick auf welche Länder Kohärenz vorangetrieben werden soll. Eine wachsende Zahl insbesondere von dynamischen Entwicklungsländern muss selbst in die Bemühungen um mehr Politikkohärenz eingebunden werden.
  • Wissen: Ob neue landwirtschaftliche Anbaumethoden, bessere Finanzverwaltungen oder Klimaschutzmaßnahmen: Wissen ist für Entwicklung zentral. Die Wissensvermittlung könnte sich zunehmend vom Transfer von Finanzmitteln und Beratung lösen. Das für die neue Entwicklungsagenda und für die Partnerländer relevante Wissen ist immer spezialisierter, stärker verstreut und liegt zunehmend außerhalb der Entwicklungszusammenarbeit. Die Herausforderung besteht darin, dieses Wissen zu identifizieren, zu vermitteln und kontextspezifisch anzuwenden. Entwicklungsorganisationen können dabei weiterhin eine Schlüsselrolle spielen, allerdings nicht konkurrenzlos. In den Beziehungen zu weiter fortgeschrittenen Ländern etwa könnten Wissensvermittler zunehmend überflüssig werden. Zahlreiche Entwicklungsländer sind durchaus in der Lage, den Transfer von Wissen selbst zu organisieren und Wissen eigenständig zu generieren.

 

Wandel als Lernprozess

Diese Auflistung zeigt: Akteure der staatlichen Entwicklungspolitik können längst keinen automatischen Anspruch mehr auf eine federführende Rolle in allen Entwicklungsfragen erheben. Viele relevante Bereiche befinden sich mehr denn je außerhalb ihres direkten Einflusses. Auch der traditionelle Aufgabenbereich, die Sicherung von Grundbedürfnissen wie Nahrung und Gesundheit, kommt nicht ohne die Beteiligung privater Akteure oder anderer Politikbereiche aus. Das war schon immer so. Doch die starke Differenzierung von Entwicklungsländern und die vielfältigeren Probleme geben Beyond Aid eine neue Qualität und Dringlichkeit. Nie zuvor war der Veränderungsdruck so groß. Es braucht einen Lernprozess der staatlichen Akteure, um Ziele und Instrumente und damit letztlich den Politikbereich insgesamt neu zu definieren.

Die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) haben Entwicklungsmaßnahmen noch simpel dargestellt: Armutsreduzierung in Entwicklungsländern sollte vor allem durch Gelder aus Industrieländern unterstützt werden. Mit Ausnahme von MDG 8, dem Ziel einer globalen Entwicklungspartnerschaft, war Beyond Aid kein ausgeprägter Bestandteil der Agenda. Der Prozess einer Neuausrichtung von globalen Entwicklungszielen und Instrumenten ist bereits im Gange. Es zeichnet sich ab, dass die Post-2015-Agenda einen breiteren Zielhorizont haben wird. Dabei ist klar, dass umfassende Ziele wie inklusive Entwicklung, ökologische Nachhaltigkeit oder Frieden und Sicherheit sich nicht ausschließlich durch offizielle Entwicklungshilfe erreichen lassen.

Entwicklungszusammenarbeit hat zwei Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln.  Als einfachste Lösung könnte sie die verschiedenen Bereiche von Beyond Aid stärker einbeziehen, um bereits bestehende Ziele zu verfolgen. Entwicklungszusammenarbeit könnte aber auch einen komplexeren Lern­prozess einleiten, wenn dieser gleichzeitig zu einer Neuausrichtung der Ziele führt.


Zwei Modelle: ­Spezialisierung und Vernetzung

Im ersten Modell kann sich Entwicklungszusammenarbeit auf eine immer kleiner werdende Gruppe armer Länder spezialisieren. Armutsreduzierung bleibt dann unverändert das Hauptziel. Auch wenn dieses Ziel nur zusammen mit einheimischen Ressourcen und guter Regierungsführung erreichbar ist, bleibt ODA ein wichtiger externer Beitrag. Die ärmsten und größtenteils auch fragilen Länder sind weiterhin stark abhängig von diesen Geldern. Trotzdem müsste Entwicklungszusammenarbeit Beyond Aid mehr einbeziehen. Die Entwicklung in fragilen Staaten hängt auch von anderen Bereichen, beispielsweise internationaler Sicherheitspolitik, ab.

Im zweiten Modell würde sich Entwicklungszusammenarbeit global verstärkt vernetzen und helfen, Herausforderungen, die viele Länder gemeinsam haben, anzugehen. Beispiele sind die rasante Urbanisierung, der demografische Wandel oder das Bereitstellen von globalen öffentlichen Gütern, wie ein stabiles Klima, Biodiversität, Schutz vor Pandemien und Ernährungssicherheit. Armutsreduzierung bleibt dabei ein wichtiges Ziel, ist aber nicht mehr Hauptfokus. Die Zweiteilung in „entwickelte“ und „zu entwickelnde“ Länder ist dann nicht mehr das bestimmende Merkmal der Kooperation. Vielmehr richten sich Maßnahmen an fragile und konfliktbefallene Staaten ebenso wie an Länder mit mittleren und gehobenen Einkommen. Als Teil einer globalen Kooperation könnte Entwicklungszusammenarbeit einen Beitrag zu kollektivem Handeln leisten.

Die beiden Modelle – Spezialisierung oder globale Vernetzung – schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie kennzeichnen vielmehr existierende Trends, die die künftige Ausrichtung des Politikfelds prägen. In beiden Fällen gibt es neue Herausforderungen. Bei einer Spezialisierung auf arme Länder ist unklar, wie Entwicklungszusammenarbeit andere Akteure für eigene Ziele gewinnen kann: Warum soll sich etwa die europäische Handelspolitik entwicklungspolitischen Prämissen unterordnen? Im Fall der globalen Vernetzung können Synergien mit anderen Politikfeldern genutzt werden, was jedoch ein hohes Maß an gegenseitiger Öffnung verlangt. Das schafft wiederum neue Konflikte.

In jedem Fall verändert die künftige Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit ihre Bedeutung auf globaler Ebene: Als spezialisiertes Politikfeld bewahrt sie ein hohes Maß an Autonomie. Darüber hinaus ist ihr Einfluss jedoch gering. Als Teil einer globalen Ko­operation gewinnt Entwicklungszusammenarbeit bei der Bewältigung globaler Aufgaben an Relevanz, muss sich aber in eine Nebenrolle fügen.


Beyond Aid: Was wäre denn anders?

Schließlich bleibt die Frage, wie stark das Nachdenken über Beyond Aid das konkrete Handeln in der Entwicklungszusammenarbeit verändern kann. Ralf Schröder, Referatsleiter im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), betonte Anfang 2014, wie wichtig die Diskussion ist. Die Bedeutung der klassischen Entwicklungszusammenarbeit nehme im heutigen globalen Kontext ab, meint er. Die Erwartungshaltung der Partner und die in Entwicklungsorganisationen geführten Diskussionen driften zunehmend auseinander.

Tatsächlich lassen sich verschiedene wichtige Debatten und Schlussfolgerungen in einen direkten Zusammenhang mit Beyond Aid bringen. Zwei Beispiele illustrieren dies:

  • Erstens ist es für das Politikfeld ein fundamentaler Unterschied, ob sich entwicklungspolitische Akteure künftig auf armutsbezogene Fragen spezialisieren oder global vernetzen. Großbritannien zum Beispiel hat die Zusammenarbeit mit Indien und Südafrika als Folge einer Spezialisierungsstrategie kürzlich beendet. Eine Alternative wäre, dass Akteure weiter mit diesen aufstrebenden Ländern bei Aufgaben wie Klimaschutz oder Bildung zusammenarbeiten.
  • Zweitens ergeben sich Unterschiede in der Verteilung der ODA-Budgets. Bisher fließt das Geld überwiegend an Länder und Regionen. Eine spezialisierte Entwicklungszusammenarbeit würde daran festhalten und Mittel noch stärker auf die ärmsten Länder konzentrieren. Dagegen würde eine an globalen Herausforderungen orientierte Verteilung anders aussehen: Unabhängig von Ländern und Regionen würden Mittel dort eingesetzt, wo sie zur Bearbeitung eines globalen Problems den größten Nutzen erbringen könnten. Dann stellen sich zunächst grundsätzliche Fragen wie: Wo lässt sich Armut am wirksamsten reduzieren? Wo lässt sich Klimawandel am effektivsten bekämpfen?

Wie entwicklungspolitische Akteure auf die veränderten Rahmenbedingungen reagieren, hat also sehr konkrete Folgen für ihre Arbeit. Einer grundlegenden Debatte über Beyond Aid können sie in den kommenden Jahren nicht ausweichen.  


Stephan Klingebiel ist Leiter der Abteilung „Bi- und multilaterale Entwicklungs­politik“ beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE).
stephan.klingebiel@die-gdi.de

Heiner Janus ist wissenschaftlicher ­Mitarbeiter in der gleichen Abteilung des DIE.
heiner.janus@die-gdi.de

Sebastian Paulo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der gleichen Abteilung des DIE.
sebastian.paulo@die-gdi.de