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Rechtsstaatlichkeit

Pakistans langer Marsch

Eine breite gesellschaftliche Bewegung zwang die Regierung in Islamabad im März dazu, den Obersten Richter Iftikhar Chaudhry wieder ins Amt zu setzen. Das war ein wichtiger Schritt, aber die Rechtslage im Land bleibt problematisch. Die pakistanischen Gesetze benachteiligen die Armen – und insbesondere Frauen. Zudem bestehen neben der staatlichen Gerichtsbarkeit islamische und traditionelle Institutionen.


[ Von Rubina Saigol ]

Am Nachmittag des 15. März 2009 machte sich Nawaz Sharif, Chef der Pakistan Muslim League (N) und ehemaliger Premierminister, von seiner Residenz in Punjabs Hauptstadt Lahore auf den sogenannten „Langen Marsch“ in Pakistans Hauptstadt Islamabad.

Diese Reise war einer früheren nachempfunden: Am 9. März 2007 hatte sich Pakistans Präsident in Uniform, Pervez Musharraf, in seinen verzierten Sitz im Rawalpindi Army House gesetzt und den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, Iftikhar Chaudhry, zum Rücktritt aufgefordert. Der Richter weigerte sich und stieß so eine Volksbewegung für die Rechtsstaatlichkeit an.

Rechtsanwälte, Organisationen der Zivilgesellschaft, Menschenrechtsaktivisten, Jour­nalisten und Akademiker hatten die Militärherrschaft satt. Sie gingen auf die Straße, um die Würde jenes Mannes wie­der­herzustellen, der es trotz der bedrohlichen Präsenz der militärischen Elite gewagt hatte, „Nein“ zu sagen. Die Proteste eskalierten, und täglich unterstützten mehr Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft Chaudhry.

Die Kampagne hatte Erfolg – zumindest zum Teil. Im Juli verhalf ein vollbesetztes Gericht mit 13 Richtern dem Obersten Richter wieder auf seinen rechtmäßigen Platz. Am 3. November entließ ein arroganter General Musharraf den gesamten Obersten Gerichtshof. Er wollte als Präsident wiedergewählt werden und zugleich Mitglied der Armee bleiben, fürchtete aber, der Oberste Richter würde einen solchen Verfassungsbruch nicht durchgehen lassen. Der Militärdiktator verhängte den Ausnahmezustand und verhackstückte in den folgenden Wochen die bereits angeschlagene Verfassung Pakistans immer weiter.

Juristen, Mitarbeiter politischer Parteien und Menschenrechtsaktivisten wurden mit Tränengas besprüht, mit Gummi­knüppeln angegriffen und inhaftiert. Die ehrenwerten Richter und ihre Familien standen unter Hausarrest. Der General-Präsident setzte Richter seiner Wahl ein, die unter einer provisorischen Verfassungsordnung vereidigt wurden und seine Wahl in Uniform für legal erklärten.

Eine komplizierte Geschichte

Angesichts anhaltender Proteste und internationaler Kritik trat Musharraf kurz darauf aus der Armee aus. Während dieser Geschehnisse, die von außen sehr verwirrend gewirkt haben müssen, wurden Parlamentswahlen abgehalten. Es siegte die PPP (Pakistan People’s Party), nachdem ihre Spitzenkandidatin, die frühere Premierministerin Benazir Bhutto, ermordet worden war. Die PPP koalierte mit der PML (N) und versprach, die Verfassungsrichter wiedereinzusetzen. Das geschah aber nicht, die PPP verschleppte die Sache, bis die PML (N) die Koalition aufkündigte.

Die Bewegung zur Wiedereinsetzung der rechtmäßigen Richter ging weiter. Jeden Donnerstag boykottierten Juristen die Gerichte. Zu ihnen gesellte sich, wer eine unabhängige Judikative wollte. Bei einer Demonstration im Juni 2008 machten sich Hunderttausende Menschen aus ganz Pakistan auf einen Sternmarsch in die abgeriegelte Hauptstadt – sie wurde später als der „Lange Marsch“ bekannt. Sie forderten, den Gerichtshof wiederein-, und den Präsidenten abzusetzen.

Tatsächlich musste Musharraf im August 2008 gehen, und Bhuttos Witwer Asif Ali Zardari ließ sich von der PPP und ihren Unterstützern im Parlament zum Präsidenten wählen. Die Richter waren noch immer nicht wieder im Amt.

Für März 2009 wurde ein zweiter „Langer Marsch“ angekündigt. Man wollte vor dem Parlament sitzen, bis die Richterschaft wiedereingesetzt war. Wieder begannen Menschen aus ganz Pakistan, mit einem Sternmarsch auf die Hauptstadt die gewählte Regierung zu zwingen, ihre Versprechen zu halten.

Diese aber tat alles, um den Widerstand zu schwächen. Straßen wurden gesperrt, Polizisten standen in voller Kampfausrüstung an den Hauptstraßen der großen Städte. Konvois von Juristen und Aktivisten aus Karachi und anderswo gerieten mit der Polizei aneinander. Der Präsident der Supreme Court Bar Association, Ali Ahmad Kurd, durfte in Lahore nicht ins Flugzeug steigen, um sich am Marsch seiner Kollegen zu beteiligen.

Schließlich doch gute Nachrichten

Den in Lahore beginnenden Hauptzug unterstützten die meisten Oppositionsparteien. Nawaz Sharif hielt eine inspirierende Rede und begann, flankiert von rund tausend Parteimitarbeitern, seinen Zug für die Gerechtigkeit nach Islamabad. Die Straßenblockaden der Regierung schmolzen weg wie Eis an einem Sommertag. Immer mehr Demonstranten folgten – Frauen, Kinder, Alte und Jugendliche. Wer das nicht konnte, hing vor dem Fernseher, wo alle Sender Bilder des historischen Geschehens zeigten. Die Behörden trauten ihren Augen kaum.

Um Mitternacht erreichten die inzwischen Zehntausende angewachsene Menschenmenge die Stadt Gujranwala. Berichten zufolge warteten an der Straße nach Islamabad überall Menschen, um sich anzuschließen. In den höchsten Rängen brach hektische Geschäftigkeit aus. Schon bald verbreiteten die Nachrichtensender, die Wiedereinsetzung der Richter stehe bevor. Die Menschen warteten weitere fünf Stunden, bis ein müder Premierminister Yousaf Raza Gilani bei Morgendämmerung die Nachricht bestätigte.

Der „Lange Marsch“ erreichte sein Ziel, ohne bis Islamabad zu kommen. Überall im Land wurde spontan gefeiert. Nawaz Sharif und die Anwälte brachen den Sternmarsch ab. Einige Tage später war der Oberste Verfassungsrichter Chaudhry zurück im Amt.

Vorstellungen von Gerechtigkeit

Der nationale Traum von einer freien und unabhängigen Justiz schien erfüllt. Der Rechtsstaat war scheinbar verteidigt und ein Gefühl von Gerechtigkeit und Fair Play kehrte zurück in ein Land, in dem das Gesetz schon oft missbraucht, Recht und Verfassungsmäßigkeit mit Füßen getreten worden war.

Dennoch fragt man sich, warum weite Teile der pakistanischen Öffentlichkeit jubelten, als der Oberste Richter in sein Amt zurückkehrte. Was verstanden sie unter Rechtsstaatlichkeit? Glaubten sie, Gerechtigkeit direkt vor ihrer Tür zu finden? Dachten sie, die Armen, Unterdrückten und Schwachen würden fortan vor den Mächtigen geschützt?

Die liberale Vorstellung vom Rechtsstaat ist ein abstraktes Konzept, das selbst viele der gebildeten städtischen Pakistanis nicht richtig verstehen. Juristen definieren Rechtsstaat als die Regierung durch Institutionen und Systeme statt durch Menschen oder Gewalt. Sie beschreiben ihn als einen Staat, in dem Macht nicht autokratisch von einer Person oder Gruppe ausgeübt wird; stattdessen teilen sich die diversen staatlichen Institutionen – Legislative, Exekutive und Judikative – die Macht. Juristen sprechen von der Vorherrschaft von Verfassung und Parlament und betonen, dass jeder dem Gesetz unterliegt und niemand darüber steht – auch nicht die Mächtigen.

Solche theoretischen Konzepte sind ­den meisten Pakistanis fremd. Ihnen gefällt scheinbar die Idee von Gerechtigkeit im Sinne von Gleichbehandlung besser. Sie wissen um die Ungleichheit bei Reichtum, Macht, Status und Kontrolle. Die populären Ansichten über Gerechtigkeit drehen sich um die Idee, dass „die Erde den Schwachen gehört“.
Verfassungsgerichtschef Chaudhry wurde zur Ikone für die, die sich für die Bewegung begeisterten, weil er eine grundlegende und verständliche Idee von Gerechtigkeit repräsentiert. Während seiner Amtszeit forderte er die Reichen und Mächtigen heraus und brachte den Schwachen und Machtlosen Gerechtigkeit. So verhinderte er etwa den wenig transparenten Verkauf der staatlichen Steel Mill an Kumpane und Freunde der Mächtigen. Auch stoppte er das „New Murree-Projekt“, für das ein kostbarer Wald mit 1,5 Millionen Bäumen abgeholzt werden sollte, um einen Erholungsort für die Reichen zu schaffen.

Chaudhry intervenierte zudem bei einer Entscheidung eines traditionellen Stammesrates, auch Jirga genannt. Dieser hatte entschieden, dass fünf Mädchen zwischen zwei und sechs Jahren an die rivalisierende Partei übergeben werden sollten, um einen Streit beizulegen. Der Jirga-Vorsitzende war übrigens Hazar Khan Bijarani, der derzeitige Bildungsminister des Landes.

Chaudhry ist auch dafür bekannt, hohe Polizei- und Staatsbeamte sowie gewählte Regierungsmitglieder wegen Verbrechen gegen die Schwachen vor Gericht zitiert zu haben. Das hatte es in der sechzigjährigen Geschichte Pakistans noch nicht gegeben. Bis dahin schien die Justiz mit den Reichen verbündet zu sein, und Urteile gingen ausnahmslos zu deren Gunsten aus.

Zudem stellte sich das Verfassungsgericht unter seiner Führung erstmals gegen einen Militärdiktator. Seit den 1950ern hatte der Oberste Gerichtshof Usurpatoren blind gedient, indem er die sogenannte „Doktrin der Notwendigkeit“ bemühte, welche militärische Machtergreifungen und die Absetzung ziviler Regierungen legitimierte. Mit diesem obersten Chef schien diese alte Verbindung zwischen Militär und Gerichtshof passée. Menschen, die der Militärregierung überdrüssig waren, erschien der neuerdings durchsetzungsfähige Gerichtshof als Wächter der Rechte der Menschen und der Verfassung, wie ein frisches Lüftchen.

Verwirrende Pluralität

Wahrscheinlich mögen die Pakistanis Chief Justice Chaudhry, weil er die Bereitschaft zeigt, sich für die Unterdrückten einzusetzen. Es geht dabei nicht um die abstrakte Rechtsstaatlichkeitsidee. Diese wird in Pakistan, wo multiple Rechtssysteme und Mittel der Rechtsprechung parallel bestehen, ohnehin als konfus und widersprüchlich wahrgenommen. Zumindest drei Systeme – das formale Rechtssystem, die religiösen Gerichte und traditionelle Streitbeilegung – bestehen in dieser komplexen, hierarchischen und in soziale Schichten aufgeteilten Gesellschaft nebeneinander.

Pakistans Gesetze basieren hauptsächlich auf der angelsächsischen Tradition und britischen Kolonialrechtsstrukturen. Scharia-Gerichte wurden in der Ära der Islamisierung unter General Zias eingeführt. Deren oberstes Gericht, der Federal Shariat Court, und die ihm untergeordneten Gerichte bilden ein Parallelsystem, das dem zentralen Gesetzeswerk widerspricht, aber gelegentlich mit diesem zusammenspielt. Auf dem Land regeln traditionelle und Stammesgesetze und Systeme wie beispielsweise Jirgas das Leben der Menschen.

Frauenrechte

Diese konkurrierenden und zugleich zusammenspielenden Rechtsvorstellungen sind widersprüchlich. Etwa besagt Artikel 15 der Verfassung, dass es keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geben dürfe. Zugleich drückt sich die Ungleichheit der Geschlechter in religiösen Gesetzen auf unterschiedliche Weise aus. Gelegentlich finden religiöse oder traditionelle Gesetze Eingang in das formale Recht und werden Teil des pakistanischen Strafgesetzes – der Staat übernimmt also Stammeseigenschaften.

So auch, als die Qisas and Diyat Ordinance, ein altes, vermeintlich islamisches Stammesgesetz, übernommen wurde. Dieses macht etwa Mord zur Privatsache, indem es den Angehörigen des Ermordeten selbst überlässt, ob sie eine Entschädigung annehmen oder Vergeltung fordern. Mord ist damit nicht mehr ein Verbrechen gegen den Staat, sondern nur noch gegen eine Person. Dieses Gesetz wurde häufig benutzt, um Leute, die sogenannte Ehrenmorde begangen, ungestraft davonkommen zu lassen. Jährlich werden viele Frauen getötet, weil dieses Gesetz Täter ungestraft davonkommen lässt.

Ähnlich machen es die Hudood Ordinances von 1979 Frauen praktisch unmöglich, eine Vergewaltigung zu beweisen. Wenn sie nicht vier erwachsene männliche moslemische Zeugen hat, wird eine Frau, die eine Vergewaltigung anzeigt, seither als Ehebrecherin behandelt. Durch dieses Gesetz wurden viele arme Frauen vom Land, die vergewaltigt und daraufhin des Ehebruchs angeklagt wurden, kriminalisiert.

Ein weiteres Beispiel ist das Beweisrecht (Law of Evidence) von 1984, nach dem die Aussage zweier Frauen so viel zählt wie die eines Mannes. So wurde der Bürgerstatus einer Frau gegenüber dem Mann gesetzlich halbiert. Ähnlich machte das Gesetz nicht-muslimische Pakistanis zu Bürgern zweiter Klasse.

In diesem Kontext ist der liberale Rechtsstaatlichkeitsdiskurs problematisch. Feministinnen verweisen darauf, dass das Konzept patriarchalische Machtstrukturen stützt, da meist Männer die Gesetze machen und dabei ihre Interessen vor die der Frauen stellen.

Klassenbenach­teiligung

Auch die Begünstigung bestimmter Klassen durch die Idee der Rechtsstaatlichkeit ist ein Thema. Diejenigen, die die Gesetze in Pakistan machen, stammen aus der reichen, Land besitzenden Aristokratie. Sie verabschieden Gesetze eher zu ihren Gunsten, als dem Ideal von Gleichheit und Gerechtigkeit zu folgen. So haben sie lange vermieden, eine Steuer auf Einkommen aus der Landwirtschaft einzuführen, worauf ihre Macht und ihr Reichtum basieren. In den gesetzgebenden Versammlungen haben die reichen Männer aus der Oberschicht das Sagen, daher ist es unwahrscheinlich, dass Gesetze für Frauen, Bauern, Arbeiter oder andere Menschen und Minderheiten gemacht werden. Pakistans politische Parteien und ihre Führer gehören immer noch meist zu den Reichsten des Landes.

Die pakistanische Bewegung für die Rechtsstaatlichkeit war erfolgreich, weil sie einem populären und unabhängig denkenden Obersten Richter zurück ins Amt verhalf. Das war wichtig – und hoffentlich ein Anfang auf dem weiten Weg zu Gerechtigkeit. Auf diesem wird Nawaz Sharifs Rolle interessant sein. Als Premierminister in den 1990ern zeigte er keine so starke Leidenschaft für den Rechtsstaat wie jetzt.

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