Kommentar
Gefährliche Ablenkung
Von Hans Dembowski
Militante Islamisten bedrohen Pakistan. Der Staat ist schwach, die Wirtschaft angeschlagen und Korruption weit verbreitet. Das Militär hat mehrfach geputscht und das Land zuletzt von 1999 bis 2007 regiert. Sein Geheimdienst hat ursprünglich die Taliban unterstützt. Islamabad sagte sich offiziell von ihnen erst los, nachdem Osama bin Laden von Afghanistan aus 2011 Anschläge auf New York und Washington organisiert hatte.
Heute ist Asif Ali Zardari Pakistans Präsident. Er ist dafür ungeeignet – angesichts der vielen Anklagen, die gegen ihn vor allem wegen Bestechlichkeit erhoben wurden. In der Schweiz wurde er wegen Geldwäsche verurteilt. Er kehrte nur dank einer Amnestie in die Politik zurück, die seine Frau Benazir Bhutto mit Präsident Pervez Musharraf, der als General in einem Staatstreich 1999 die Macht ergriffen hatte, 2007 aushandelte. Diese Amnestie war dazu gedacht, die Rückkehr zur Demokratie zu erleichtern. Bhutto war eine frühere Premierministerin, die auf Wiederwahl hoffte, und Musharraf stand 2007 unter doppeltem Demokratisierungsdruck:
– Es gab Massenproteste gegen ihn, nachdem er den beliebten Präsidenten des Supreme Court, Iftikhar Chowdhry, abgesetzt hatte.
– Die US-Regierung unter George Bush Junior wünschte sich eine besser legitmierte Staatsführung in Pakistan.
Die Rückkehr zur Demokratie lief nicht glatt. Bhutto starb im Dezember 2007 bei einem Anschlag. Ihre Partei gewann bald darauf die Wahlen, so dass ihr Witwer Zardari 2008 Musharrafs Nachfolger im Präsidentenamt werden konnte.
Eine generelle Amnestie ist für ein Land mit großen Korruptionsproblemen jedoch ungesund. Deshalb entschied der Supreme Court mit dem wieder eingesetzten Chowdhry an der Spitze, dass sie ein Verstoß gegen die Verfassung war. Die Richter scheinen darauf zu brennen, korrupte Politiker zu bestrafen. Sie wagten sich aber leider an die Causa Zardari nur indirekt heran: Sie wiesen Premierminister Yousuf Raza Gilani an, die Schweiz zu bitten, Ermittlungen gegen das Staatsoberhaupt wieder aufzunehmen. Gilani lehnte das ab und berief sich auf die Immunität des Präsidenten.
Im Februar hat der Supreme Court Gilani nun wegen Missachtung der Justiz angeklagt. Ihm drohen sechs Monate Haft, sollte er verurteilt werden. Er könnte dann auch nicht Regierungschef bleiben – dabei hätte er sonst eine echte Chance, als erster Premier in Pakistans Geschichte eine ganze Legislaturperiode im Amt zu bleiben. Der Supreme Court riskiert also eine schwere Verfassungskrise. Vor Redaktionsschluss wurde die Angelegenheit vertagt.
In den vergangenen Monaten hatte sich Gilani kritisch über das Militär geäußert. Er sprach von „Verschwörungen gegen die zivile Regierung“ und warnte vor einem „Staat im Staate“. Die Generäle sind über Berichte in westlichen Medien erbost, die Regierung habe die USA um Schutz vor einem Militärputsch gebeten, nachdem ein US-Kommando bin Laden im Mai in Pakistan tötete. Sie fordern, der Supreme Court soll nach undichten Stellen suchen. Gilanis relativ offene, wenn auch immer noch verharmlosende Rhetorik missfällt den Militärs, die schon lange und ganz offensichtlich einen Staat im Staate bilden.
Manche Beobachter meinen, der Supreme Court komme den Generälen mit seiner Klage gegen Gilani entgegen. Andere verweisen darauf, dass er auch Verbrechen aus der Zeit der Militärherrschaft untersuche, was zeige, dass die Justiz sich als unabhängige Staatsgewalt behaupten wolle.
Keine Frage: Pakistan braucht Urteile, die die Kultur der Straflosigkeit für gewalttätige Militärs und korrupte Politiker beenden. Schon aus Selbstachtung heraus muss die Justiz handeln. Trotzdem sind die Schritte gegen Gilani falsch. Die Selbstachtung der Justiz gebietet nämlich auch, dass sie Unrecht selbst ahndet. Sie darf wichtige Angelegenheiten nicht ans Ausland überweisen.
Wenn der Supreme Court Zardari im Gefängnis sehen will, müssen die Richter ihm den Prozess machen. Dafür müssen sie entweder einen Weg finden, seine Immunität aufzuheben, oder warten, bis seine Amtszeit zu Ende ist. Ein krisengeplagtes Land kann sich die gefährliche Ablenkung nicht leisten, die eine Prozess gegen den Premierminister bedeutet, wenn der Präsident das eigentliche Problem ist.