Kommentar
Alternde Gesellschaften
Altersarmut ist chronisch und nicht nur ein individuelles Schicksal: es hat generationenübergreifende Konsequenzen und destabilisiert die soziale Sicherung ganzer Gesellschaften. Die Millennium Development Goals (MDG) tragen der zunehmenden Alterung der Weltbevölkerung nicht ausreichend Rechnung. Alte Menschen werden darin nicht spezifisch erwähnt. Die wichtigste Zielvorgabe der MDG, den Anteil der Menschen unter der Armutsgrenze zu halbieren, lässt sich ohne eine dezidierte Politik für Ältere kaum erreichen.
Auch der Rio+20-Gipfel im Juni 2012 hat die Bedeutung der demografischen Trends für nachhaltige Entwicklung nicht aufgegriffen. Das muss nun geändert werden. Die Potentiale älterer Menschen – ihr Erfahrungswissen und praktisches Können, ihre soziale Kompetenz am Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben und in der Familie – müssen genutzt werden. Und es muss deutlich werden, wie eng die soziale Sicherung im Alter mit den Überlebenschancen der jüngeren Generationen zusammenhängt. In Subsahara-Afrika ziehen beispielsweise Großeltern Millionen von Aids-Waisen auf. Und Renten für Ältere ermöglichen vielen Familien, ihre Kinder zur Schule zu schicken oder auch kleine wirtschaftliche Aktivitäten zu entwickeln.
Auch die Entwicklungspolitik muss Alterung berücksichtigen. Ländliche Räume sind vielerorts durch Migration in die Städte oder ins Ausland gekennzeichnet. Die Schwächeren bleiben zurück: Alte, Behinderte, Frauen und Kinder.
Weltweit steigt die Zahl alter Klein- und Subsistenzbauern. Die indonesische Regierung etwa schätzt, dass 80 Prozent der 140 Millionen Bauern des Landes 45 oder älter sind. In Jamaika liegt das Durchschnittsalter von Kleinbauern bei 55 Jahren. In Mosambik sind zwei Drittel der Mitglieder der Kleinbauernvereinigung über 50.
Und gerade ihnen droht Hunger, weil ihnen die Kaufkraft fehlt, sich über das, was sie selbst anbauen, hinaus Nahrungsmittel zu kaufen. Wenn Knappheit die Preise hochtreibt, wird ihre Lage immer schwieriger. Und auch die Nahrungsmittelproduktion für den Eigengebrauch ihrer Familien ist angesichts zunehmender körperlicher Schwäche im Alter ein gravierendes Problem. Die Entwicklungspolitik muss überlegen, wie sie hier effektiv helfen kann. Die Genderdiskussion befasst sich in den letzten Jahren fast ausschließlich mit Mädchen und jungen Frauen. Ältere Frauen stellen aber einen wachsenden Anteil der weiblichen Bevölkerung dar und sind von vielfältigen Diskriminierungen betroffen. Traditionelles Recht schließt sie in vielen Ländern von ihrem Erbe aus, wenn der Ehemann stirbt. Die soziale Absicherung älterer Frauen ist auch deshalb so schlecht, weil sie in ihrem Leben weniger Möglichkeiten für eine formelle Beschäftigung haben als Männer. Entsprechend sind sie auch den Gesundheitsrisiken im Alter besonders ausgesetzt.
In künftigen Debatten zur Weiterentwicklung der MDGs hin zu Sustainable Development Goals (SDGs) müssen die deutsche Regierung und Zivilgesellschaft stärker auf demografische Entwicklungen eingehen als bisher. Probleme und Potentiale einer alternden Bevölkerung müssen aufgegriffen und Lösungen gesucht werden. Die soziale Sicherung und insbesondere das Gesundheitswesen müssen auf diese Menschen zugeschnitten werden.
Die Politik darf alte Menschen nicht auf Dauer benachteiligen. Unbewusste, aber oft genug auch gezielte Diskriminierung müssen aufhören. Sich dieser Diskussion zu verweigern wäre unter ethischen und moralischen Gesichtspunkten unverantwortlich.
Hinweis des Autoren: Der Fotograf Christoph Gödan hat Südafrika und Tansania bereist. Sein Buch „Die großen Mütter“ mit Bildern und Interviews betroffener Frauen ist bei HelpAge für 25 Euro erhältlich (http://www.helpage.de/aktuell.php?akt=bgoeda).