Äthiopien

Vom Agrarstaat zum Industriezentrum

Äthiopien gilt in Afrika als eine Art Wirtschaftswunderland. Für die Entwicklungsstrategie der Regierung spielt der Außenhandel eine wichtige Rolle.
Kaffee ist eines der Hauptexportprodukte Äthiopiens: Bauer im Bezirk Woreda. Crispin Hughes/Lineair Kaffee ist eines der Hauptexportprodukte Äthiopiens: Bauer im Bezirk Woreda.

Kaum ein anderes afrikanisches Land hat sich im vergangenen Jahr so positiv entwickelt wie Äthiopien. Nach Jahrzehnten der autoritären Herrschaft macht das zweitbevölkerungsreichste Land Afrikas unter dem Reformkurs seines neuen Premierministers Abiy Ahmed nun erste Schritte hin zu mehr Demokratie (siehe auch Kommentar von Ludger Schadomsky in E+Z/D+C e-Paper 2018/05, Debatte). Seit seinem Amtsantritt im April 2018 hat der erst 42-jährige Abiy Frieden mit dem langjährigen Erzfeind Eritrea geschlossen, politische Gefangene freigelassen, faire Wahlen für das kommende Jahr versprochen und wirtschaftliche Reformen angekündigt.

Dass Äthiopien als Hoffnungsträger in Afrika gilt, ist aber nicht nur auf den Reformkurs seines neuen Premierministers zurückzuführen. Denn das Land hat bereits in den vergangenen beiden Jahrzehnten beachtliche sozioökonomische Fortschritte gemacht, wenn auch ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau. Seit Mitte der 1990er Jahre haben sich die Einschulungsraten dank hoher Investitionen im Bildungssektor mehr als verfünffacht. Durch den Ausbau des Gesundheitssystems ist die Kinder- und Müttersterblichkeit deutlich gesunken und die Lebenserwartung – der beste Querschnittsindikator für das Wohlergehen der Menschen – um 15 Jahre angestiegen. Auch die Wirtschaft im Land ist beachtlich gewachsen: Ab Mitte der 2000er Jahre lag der jährliche Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts für mehr als ein Jahrzehnt im Schnitt bei über zehn Prozent – das Höchstniveau auf dem Kontinent.


Weg vom Agrarstaat

Diese Erfolge hat Äthiopien zu einem guten Teil der klaren Entwicklungsstrategie zu verdanken, welche die Regierung schon lange vor Abiys Amtszeit verfolgte. Sie hatte das Ziel vor Augen, das Land mit heute mehr als 100 Millionen Einwohnern von einem armen Agrarstaat in ein Schwellenland zu verwandeln, das Landwirtschafts- und Leichtindustrieprodukte auf dem Weltmarkt verkauft. Dazu haben Äthiopiens Staatslenker dort angesetzt, wo nahezu jeder Transformationsprozess begonnen hat: in der Landwirtschaft. Bereits 1993 entwickelte die Regierung die „Agricultural Development Led Industrialization“-Strategie, kurz ADLI, die die Landwirtschaft als Grundpfeiler für Entwicklungsfortschritte und Ausgangspunkt eines Industrialisierungsprozesses definiert. Äthiopien begann dementsprechend früh, in den Agrarsektor zu investieren, etwa indem landesweit ein Netz von landwirtschaftlichen Beratern aufgebaut wurde, die Kleinbauern dabei unterstützen, produktiver zu werden.

Der Ansatz, zuerst die Produktivität in der Landwirtschaft zu verbessern, hat sich als sinnvoll erwiesen: Seit 1990 haben sich die Erträge – also die Produktionsmengen pro Hektar – bei Getreide und anderen wichtigen Anbauprodukten mehr als verdoppelt. Bessere Ernten trugen dazu bei, dass sich die Armut der Landbevölkerung, die 70 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, deutlich reduziert hat. Die Exporte landwirtschaftlicher Produkte sind seither ebenfalls angestiegen, wozu auch kommerzielle Großbetriebe beigetragen haben. Nachteilig dabei ist, dass ihnen die lokale Bevölkerung in einigen Regionen des Landes weichen musste.

Während Äthiopien 1993 landwirtschaftliche Erzeugnisse im Wert von 150 Millionen US-Dollar exportierte, lag deren Warenwert 20 Jahre später mit 3,4 Milliarden US-Dollar mehr als 20-mal so hoch. Auch der Erlös von Kaffee, dem Exportschlager Äthiopiens, hat sich seither mehr als versechsfacht. Zudem hat das Land seine Exportproduktpalette in den vergangenen Jahren zunehmend erweitert. So sind seit Mitte der 1990er Jahre beispielsweise Schnittblumen hinzugekommen und mittlerweile zum sechstwichtigsten Exportprodukt Äthiopiens aufgestiegen. Auf dem afrikanischen Markt liefert nur der Nachbar Kenia größere Mengen davon für den globalen Markt. Bei drei landwirtschaftlichen Produkten ist Äthiopien heute einer der weltweit größten Exporteure: Schnittblumen, Sesam und Kaffee.


Investitionen in Infrastruktur

Um Unternehmen aus dem Ausland zu Investitionen in Äthiopien zu motivieren, treibt die äthiopische Regierung seit Jahren einen enormen Infrastrukturausbau voran – von neuen Straßen, Strom-, Wasser- und Telekommunikationsleitungen bis hin zu einer neuen Bahnstrecke, die Addis Abeba mit dem Hafen in Djibouti verbindet. Auch neue Industrieparks entstehen: In sechs Parks wird bereits produziert, acht weitere sind im Bau.

Der Ausbau der Infrastruktur und der Industrieparks ist kostspielig und meist nur mit ausländischer Unterstützung zu meistern, die überwiegend aus China kommt. Doch die Anstrengungen scheinen sich für Äthiopien zu lohnen: Im Industriepark Hawassa, dem Flaggschiff-Park 275 Kilometer südlich von Addis Abeba, produzieren mittlerweile fast 20 in- und ausländische Unternehmen, unter anderem aus China, Indien und Sri Lanka. Die Hauptprodukte sind Kleidung und Textilien für Branchenriesen wie H&M, Walmart, Levi’s und Guess. Ausländische Investoren finden in Äthiopien günstige Arbeitskräfte und vielseitige Anreize – von Stromsubventionen bis hin zu Zollbegünstigungen.

Im Jahr 2017 flossen insgesamt 3,6 Milliarden US-Dollar an ausländischen Direktinvestitionen nach Äthiopien, mehr als in jedes andere Land in Subsahara-Afrika. Und das Interesse wächst weiter, spätestens seit Premier Abiys Ankündigung, weitere wirtschaftliche Reformen durchzuführen. Auch deutsche Unternehmen zeigen sich interessiert: Bei seinem Besuch in Äthiopien im Januar wurde Bundespräsident Steinmeier von einer Delegation von Wirtschaftsvertretern begleitet, zu der auch Führungskräfte von Siemens und Volkswagen gehörten. Volkswagen unterzeichnete bei dieser Gelegenheit eine Absichtserklärung: Der Autokonzern aus Wolfsburg möchte künftig in Äthiopien tätig werden und unter anderem ein Montagewerk im Land errichten.


Ein steiniger Weg

Mit Hilfe der ausländischen Investitionen soll in Äthiopien der Industrialisierungsprozess Fahrt aufnehmen. Bis 2025 soll sich der Anteil der Fertigungsindustrie, der 2017 bei etwa sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts lag, nach Regierungsplänen auf 18 Prozent verdreifachen. Bis dahin möchte Äthiopien zu einem der größten Fertigungszentren in Afrika werden und in die Weltbank-Gruppe der Länder mit unterem mittlerem Einkommen aufsteigen.

Damit die ambitionierten Entwicklungspläne der Äthiopier Realität werden können, muss die Regierung unter Abiy allerdings noch viele Herausforderungen bewältigen. Der Infrastrukturausbau lässt zunehmend einen Schuldenberg anwachsen, und viele Investitionen zahlen sich bisher nicht wie geplant aus. So führen beispielsweise die Verzögerungen beim Bau des Grand Ethiopian Renaissance Dam, einem Mega-Staudamm an der Grenze zu Sudan, dazu, dass benötigte Einnahmen aus dem Stromexport bislang ausbleiben. Da Äthiopien noch immer mehr Güter importiert als exportiert und zeitgleich zunehmend fällige Kredite bedienen muss, schmelzen die Reserven an ausländischen Währungen dahin. Für die Äthiopier ist es deshalb umso wichtiger, dass ausländische Investoren und Geberländer vom Reformwillen überzeugt werden können, damit sie dringend benötigte Devisen ins Land bringen.

Dies scheint dem neuen Premierminister bisher gut zu gelingen. Weniger Erfolg haben er und seine Regierung dabei, die über 80 unterschiedlichen Ethnien im Land zusammenzuhalten. Die schon lange brodelnden ethnischen Konflikte kochen seit der demokratischen Öffnung Äthiopiens wieder hoch. Regelmäßige gewaltsame Zusammenstöße zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen gefährden aktuell die Stabilität des Landes und damit auch Abiys Reformkurs. Ob Äthiopien seine bisherigen Erfolge verstetigen und zu einem Industriezentrum in Afrika aufsteigen kann, hängt auch davon ab, ob es gelingt, diese inneräthiopischen Konflikte zu lösen. Denn ohne innerstaatliche Stabilität lassen sich Reformen kaum umsetzen.


Alisa Kaps ist Wissenschaftlerin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und beschäftigt sich hauptsächlich mit den demografischen Herausforderungen in Subsahara-Afrika.
kaps@berlin-institut.org