Diktaturopfer

Späte Wahrheit, keine Gerechtigkeit

Fast 30 Jahre nach dem Ende der Militärherrschaft in Brasilien hat die am 18. November 2011 eingesetzte Nationale Wahrheitskommission im Dezember 2014 ihren Abschlussbericht vorgelegt. Der Bericht beschreibt die zwischen 1964 und 1985 begangenen Menschenrechtsverletzungen und nennt Täter sowie Opfer. Ihre Empfehlungen erscheinen aber willkürlich und unvollständig – und es ist unklar, ob sie überhaupt das Mandat zur Formulierung von Reformvorschlägen hatte.
The Brazilian armed forcesBrasiliens Streitkräfte erkennen bis heute keine Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen an: Parade am Unabhängigkeitstag in Brasília 2014.  have never acknowledged their responsibility for human rights abuses: a parade on Brazil’s Independence Day, 2014. Fehrman/Demotix/picture-alliance The Brazilian armed forcesBrasiliens Streitkräfte erkennen bis heute keine Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen an: Parade am Unabhängigkeitstag in Brasília 2014. have never acknowledged their responsibility for human rights abuses: a parade on Brazil’s Independence Day, 2014.

Im ersten Band beschreibt die Nationale Wahrheitskommission (Comissão Nacional da Verdade – CNV) die grausamen und historisch bedeutsamen Menschenrechtsverletzungen, die unter der Herrschaft der Militärs nach dem Putsch von 1964 begangen wurden. Die Kommission erklärt die bürokratische Struktur der Diktatur einschließlich ihrer zahlreichen Repressionsorgane. Neben dem sehr mächtigen nationalen Geheimdienst hatte jedes Ministerium eigene Dienste. Obendrein gab es verschiedene Polizeidienste, ohne die die systematische Begehung von Menschenrechtsverletzungen unmöglich gewesen wäre.

Die Kommission beleuchtet auch die enge Zusammenarbeit der Länder des Cono Sur (Argentinien, Brasilien, Bolivien, Chile, Paraguay und Uruguay) im Rahmen der „Operation Condor“ von 1975. Die beteilig­t­­en Militärregime koordinierten damals heimlich ihre brutale Repressionspolitik. Die CNV erläutert auch, wie brasilianische Offiziere von der United States Army School of the Americas ausgebildet wurden.


Vier grundlegende Menschenrechtsverletzungen

Der erste Band nennt die vier wichtigsten Formen von Menschenrechtsverletzungen:

  • rechtswidrige und willkürliche Festnahmen,
  • systematische physische wie psychische Folter einschließlich Vergewaltigung und sexueller Nötigung,
  • willkürliche und außergerichtliche Hinrichtungen oder andere Formen staatlicher Tötungen und
  • „Verschwindenlassen“.

Der zweite Band enthält einzelne Beiträge zu Menschenrechtsverletzungen an bestimmten Personengruppen (etwa Militärangehörige, Arbeiter, Bauern, indigene Gruppen oder Homosexuelle) und Institutionen (wie die Kirche oder Universitäten). Des Weiteren wird die Kollaboration von Unternehmern mit der Diktatur beleuchtet.

Der dritte Band hat laut CNV eine große historische Bedeutung. Er ist 434 einzelnen Opfern gewidmet, von denen 191 getötet wurden. Der Bericht erzählt das Leben der Opfer und die Umstände ihres Todes. Er zeigt, dass die brasilianische Militärdiktatur eine aktive Politik systematischer Menschenrechtsverletzungen verfolgt hat.

Positiv ist, dass die Kommission Namen nennt. Unter 377 Tatverdächtigen sind acht ehemalige Präsidenten der Diktatur, die allerdings alle tot sind, sowie Minister der Marine, des Heeres und der Luftwaffe. Außerdem werden Unternehmen und Unternehmer genannt, die mit dem Regime kollaboriert haben. Dieses „naming“ und „shaming“ ist eine klassische Maßnahme aus dem Repertoire der Transitionsjustiz. Es handelt sich um einen ersten, wenn auch noch sehr vorsichtigen Schritt einer ernsthaften Vergangenheitsaufarbeitung.

Die CNV stützt sich auf über 1000 Zeugenaussagen aus 80 öffentlichen Anhörungen. Das ist eine enorme Dokumentationsleistung, die großen Respekt verdient. Die CNV hat damit einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Wahrheit geleistet; sie hat dies sogar besser gemacht, als es in spezifischen Strafverfahren möglich gewesen wäre. Denn solche Wahrheitskommissionen sind aufgrund ihrer interdisziplinären Zusammensetzung viel besser dazu geeignet, die historische Wahrheit festzustellen. Dem­gegenüber geht es im Rahmen von Strafverfahren nur um die persönliche Schuld des oder der Angeklagten. Der historische Kontext ist nur insoweit relevant, als er zur Klärung dieser Frage beitragen kann.

Positiv ist zudem, dass der CNV-Bericht auf fortbestehende Strukturen hinweist, die Menschenrechtsverletzungen begünstigen. So schlägt sie beispielsweise vor, die Lehrpläne von Polizei- und Militärakademien so zu modifizieren, dass Demokratie und Menschenrechte gefördert werden. Sie befürwortet auch die Abschaffung jeglicher Diskriminierung von Homosexualität in der Gesetzgebung und beanstandet Defizite in Strafprozessordnung und Justizvollzug.


Kommission der Straflosigkeit

Der Bericht verdient aber auch Kritik. Weil das Verteidigungsministerium und die Streitkräfte die CNV nicht unterstützt haben, enthält der Bericht kaum bislang unbekannte Informationen. Das Verteidigungsministerium hat nur sehr wenige neue Dokumente offengelegt; und was offengelegt wurde, war meist schon bekannt. Dem Bericht mangelt es deshalb an Originalität.

Noch wichtiger ist, dass die CNV wohl eine Kommission der Straflosigkeit bleibt. Sie wurde viel zu spät eingerichtet und ist letztlich am größten Hindernis gescheitert – dem Amnestiegesetz vom 28. August 1979. Es verhindert die konsequente strafrechtliche Aufarbeitung der brasilianischen Menschenrechtsverletzungen. Das Amnestiegesetz wurde nie ernsthaft in Frage gestellt, obwohl die aktuelle Präsidentin Dilma Rousseff und ihre beiden direkten Vorgänger Lula da Silva und Fernando Henrique Cardoso selbst Opfer der Diktatur waren. Die Streitkräfte weigern sich nach wie vor, die Menschenrechtsverletzungen offiziell anzuerkennen. Einige Militärs gehen sogar so weit, den Staatsstreich von 1964 als Revolution zu bezeichnen. Sie forderten, die CNV solle auch die Verbrechen der Gegner des Militärregimes untersuchen. Es wurde sogar versucht, die Verbreitung des CNV-Berichts juristisch zu unterbinden.

Offensichtlich übt der Kommissionsbericht nun einen gewissen politischen Druck auf das brasilianische Justizsystem und den Obersten Gerichtshof (Supremo Tribunal Federal – STF) aus. Die strafrechtliche Verfolgung, Aburteilung und Bestrafung der Tatverdächtigen sollte endlich in die Wege geleitet werden. Der Bericht deckt schwere Menschenrechtsverletzungen und damit Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf, die einer völkerrechtlichen Verfolgungs- und Bestrafungspflicht unterliegen, die ein nationales Amnestiegesetz nicht aufheben kann.

Die CNV empfiehlt denn auch, das Amnestiegesetz ungültig zu machen. Das wird aber vermutlich keine Folgen haben, denn der STF hat dieses Gesetz in letzter Instanz für verfassungsgemäß erklärt. Am Obersten Gerichtshof scheiterten bislang auch Bemühungen der Bundesstaatsanwaltschaft und einiger Bundesrichter, die Verbrechen der Militärdiktatur strafrechtlich zu verfolgen.

Allerdings unterstützt der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof (Corte Interamericana de Derechos Humanos – CIDH) die Sicht der CNV. Laut einer CIDH-Entscheidung vom Oktober 2014 erfüllt Brasilien seine völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Strafverfolgung nicht. Wichtig ist nun, wie sich neue STF-Richter zu dieser Frage stellen.

Es überrascht allerdings, dass der CNV-Bericht nicht einmal international anerkannte und übliche Maßnahmen der Transitionsjustiz empfiehlt. Dazu gehört beispielsweise die Säuberung der öffentlichen Verwaltung. In Brasilien erhalten Militärangehörige oder andere Personen im Ruhestand, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, weiterhin staatlichen Bezüge und Sozialleistungen, ohne dass ihre strafrechtliche Schuld geklärt wäre.

Die CNV macht viele Empfehlungen (siehe Hintergrundkasten). Es zeugt aber von einer gewissen Halbherzigkeit, dass sie nicht einmal alle Mittel der Transitionsjustiz genutzt sehen will. Es ist auch nicht klar, ob die CNV ein Mandat zur Formulierung weitgreifender Reformvorschläge hatte. Folglich erscheinen ihre Vorschläge willkürlich und unvollständig.

Generell ist ihre Arbeit dennoch lobenswert. Sie kann ein wichtiger Beitrag sein, um autoritäres Denken in Brasilien zu verringern und demokratische Institutionen zu stärken. Dass die CNV das Verbot jeglicher Feierlichkeiten zum Putsch von 1964 fordern musste, zeigt, dass ­solch autoritäres Denken immer noch existiert. Der Bericht der CNV ist ein harter Schlag gegen die Nostalgiker der Diktatur und die unverbesserlichen Verteidiger der Folter. Die strafrechtliche und ­administrative Verantwortlichkeit der Militärangehörigen und die notwendige Strukturreform der Streitkräfte stehen ­allerdings noch aus. Späte Wahrheit ist besser als keine Wahrheit und späte ­Gerechtigkeit besser als keine Gerechtigkeit.

Kai Ambos ist Professor für internationales Strafrecht an der Universität Göttingen und Richter am dortigen Landgericht (derzeit abgeordnet an das OLG Braunschweig).
kambos@gwdg.de

Eneas Romero ist brasilianischer Staatsanwalt und promoviert derzeit als Stipendiat des DAAD/CAPES an der Universität Göttingen.

Links:
Abschlussbericht der Comissão Nacional da Verdade (CNV):

http://www.cnv.gov.br/index.php?option=com_content&view=article&id=571
Entscheidung der Corte Interamericana de Derechos Humanos:
http://www.corteidh.or.cr/docs/supervisiones/gomes_17_10_14.pdf
Entscheidung des Supremo Tribunal Federal:
http://www.stf.jus.br/arquivo/cms/noticianoticiastf/anexo/adpf153.pdf