Religion
Wohlstand durch Buße und Umkehr
[ Von Michael Vollmann ]
Der Pentekostalismus (Pfingstbewegung) entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA im Rahmen einer Abspaltung vom puritanischen Protestantismus. Dieser auch „evangelikal“ genannte Protestantismus stützt sich bis heute auf die Apostelgeschichte, der zufolge Gott durch die Gaben des Heiligen Geistes unter den Gläubigen wirkt und auf diese Weise Kranke heilt, Wunder tut und materielle und spirituelle Segnungen erteilt.
Nach Brasilien gelangte die Pfingstbewegung mit nur kurzer Verzögerung. Sie breitete sich in drei großen Expansionswellen im ganzen Land aus. Dabei wurde die Theologie mehrfach modifiziert und fragmentiert. Heute ist eine unüberschaubare Pluralität verschiedener Pfingstkirchen in Brasilien aktiv. Seit den 70er Jahren ist vor allem der Neopentekostalismus auf dem Vormarsch – eine anpassungsfähige Strömung, die sich stark auf das Diesseits bezieht.
Wegen ihrer undogmatischen Flexibilität in Lehrfragen lassen sich pfingstliche Frömmigkeitspraktiken leicht mit etablierten Glaubenstraditionen verschmelzen. Neopentekostale Gruppen verarbeiten und integrieren nicht nur römisch-katholische Haltungen, sondern auch andere europäische, afrikanische und indigene Einflüsse. Ihre Missionare sind oft sprachgewandt und stellen sich geschickt auf Zielgruppen ein. Typischerweise geht der Synkretismus mit strenger Bibeltreue und Bezug auf den auferstandenen Jesus einher.
Pfingstgemeinden machen mehr als andere Strömungen des zeitgenössischen Christentums den Glauben zum bestimmenden Lebensprinzip der Gemeinschaft. Sie erzeugen hohen Binnendruck und greifen tief in den Alltag der Frommen ein. Verlangt wird die unbedingte Einhaltung der Regeln. Was Intellektuelle als repressiven Gruppenzwang zur Konformität interpretieren, bietet vielen Brasilianern aus ärmeren Verhältnissen indessen Geborgenheit und Halt in einer Gesellschaft, die sie als gefährlich, chaotisch und gesetzlos empfinden.
Mit klaren moralischen Weisungen schreibt die Pfingstbewegung ihren Mitgliedern Regeln für Lebensführung und Alltagsbewältigung vor. Typisch sind die Betonung von Selbstdisziplin, Triebunterdrückung und Askese. Mehr als andere Christen verzichten Pfingstler auf Nikotin, Alkohol und Drogen. Auch praktizieren sie ihre Sexualität meist entsagungsbereiter. Sie betonen Familienwerte besonders stark, bringen ihren Kindern trotz autoritären Erziehungsstils relativ große emotionale Nähe entgegen und investieren vergleichsweise viel Geld in deren Bildung.
Moralischer Rigorismus
Die „Theologie des Wohlstandes“ verspricht den Gläubigen direkte materielle Hilfe Gottes im Hier und Jetzt bei ehrlicher, harter Arbeit und der Abgabe des Zehnten an die Kirche. Solch moralischer Rigorismus trägt dazu bei, dass Arbeitseinkommen nicht verschwendet, sondern in den Lebensunterhalt der Familie investiert werden. Die missionarische Dynamik der Pfingstbewegung wird denn auch primär von Frauen getragen, die durch die Übernahme wichtiger Laienämter zunehmend dem überkommenen Machismo entgegenwirken.
Evangelikale Strömungen sind besonders in Milieus attraktiv, in denen bisher Religion nur geringe moralische Steuerungskraft entfaltete. Pfingstkirchen bieten marginalisierten Menschen soziale Netzwerke – und vermitteln über Kontakte auch Jobs.
Der evangelikale Protestantismus praktiziert in gewisser Weise, was auch die Entwicklungspolitik predigt: Hilfe zur Selbsthilfe. Er bietet die Chance, soziale Strukturen aufzubauen und Sozialkapital zu bilden. Das dient durchaus der Verbesserung der sozioökonomischen Situation – freilich nur solange, wie die Freikirchen, die nur auf schnellen Profit durch die Ausbeutung ihrer Gläubigen aus sind, in Brasilien die Ausnahmen bleiben.
Besonders faszinierend wirkt auf viele Menschen die evangelikale Botschaft, dass es möglich ist, durch Buße und Umkehr aus eigener Kraft zu weltlichem Wohlstand zu kommen. Erfolgreiche Selbstdisziplinierung gilt als Beleg dafür, dass ein Mensch vom Heiligen Geist beseelt ist. Damit sprechen die Pfingstkirchen sehr viel direkter die Sorgen, Bedürfnisse und Erlösungshoffnungen vieler armer Brasilianer an, als das die herkömmlichen Glaubensgemeinschaften tun. Zunehmend erreichen sie aber auch Mitglieder höherer sozialer Schichten. Manche evangelikale Gemeinschaften umwerben solche lukrativen Zielgruppen mit gerissenen Marketingkampagnen. Aus den genannten Gründen findet der evangelikale Protestantismus auch in den Ballungszentren anderer Schwellen- und Entwicklungsländer Anklang.
Der Glaubenswechsel bestimmter Segmente der brasilianischen Unterschicht zu den Pfingstkirchen entspricht deren Übertritt von einer passiven, konformistischen Mehrheit zu religiös aktiven Minderheiten. Es handelt sich längst nicht mehr um randständige oder zweitrangige Akteure. Der immense Missionserfolg neopentekostaler Sekten hat die protestantischen Kirchen in Brasilien mittlerweile derart „verpfingstlicht“, dass heute drei Viertel aller Protestanten als evangelikal gelten können. Sie bilden nach der katholischen Kirche die einflussreichste religiöse Kraft.
Bis in die 80er Jahre ignorierte die katholische Kirche dieses vermeintlich vorübergehende Randphänomen. Sie rang mit der kommunistisch inspirierten Befreiungstheologie. Die charismatische Pfingstbewegung wurde erst wirklich wahrgenommen, als sie in der katholischen Kirche selbst unter dem Namen „Katholische Charismatische Erneuerung“ (KCE) auftauchte.
Während die Befreiungstheologie seit Jahrzehnten im Niedergang ist, erlebt die KCE ähnliche Wachstumsraten wie ihre freikirchliche Konkurrenz. Sie dient somit als Mittel zur Neutralisierung der Befreiungstheologie. Andererseits heißt es, dass die Amtskirche auf diesem Weg die pfingstliche Dynamik zum eigenen Nutzen einfängt.
Der französische Soziologe Jean-Pierre Bastian urteilt aber, die Verpfingstlichung des Katholizismus sei ein „wahrhaft Trojanisches Pferd“. Denn auch die katholischen Pfingstler distanzierten sich von hergebrachten Doktrinen und Institutionen. Zudem stelle sie die etablierte bürokratische Hierarchie des Katholizismus in Frage, da in der Pfingstbewegung religiöse Autorität mit individuellem Charisma verbunden ist. Bastian vermutet, die KCE werde die Pfingstbewegung nicht wirklich im Interesse der katholischen Kirche eindämmen. Vielmehr stärke sie den evangelikalen Impetus und öffne damit die Schleusen für eine allgemeine Verpfingstlichung Brasiliens.
Bis in die 50er Jahre war die katholische Kirche der einzige geistliche Gesprächspartner des brasilianischen Staats. Seit das Land Ende der 80er Jahre zur Demokratie zurückfand, sind die Pfingstkirchen der katholischen Kirche nun rechtlich gleichgestellt. Folglich konkurrieren die Glaubensgemeinschaften auf einem deregulierten Glaubensmarkt um Geld, Sendeplätze und andere Ressourcen. Die Pfingstgruppen bauen ihren Verhandlungsspielraum aus, indem sie Mitglieder politisch mobilisieren und für bestimmte Ziele instrumentalisieren.
Pentekostale Politiker sind in allen brasilianischen Parteien zu finden und verhalten sich recht opportunistisch. Seit Ende der Militärdiktatur gibt es aber im Parlament die „bancada evangelica“, welche die Abschaffung des Katholizismus als Staatsreligion durchsetzte. Ziele wie Restriktionen für Abtreibung, Ehescheidung und künstlerische Freiheit teilt sie mit der katholischen Kirche. Ihr Hauptziel bleibt aber die Wahrung ihrer Rechte als eigenständige Religionsgemeinschaft.
Folgen des Wandels
Die Meinungen gehen darüber auseinander, wie sich der religiöse Wandel auf das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft auswirkt. Der nordamerikanische Politologe Anthony Gill sieht durch die Zunahme des religiösen Pluralismus die Zivilgesellschaft, und somit auch die Demokratie Brasiliens gestärkt. Ihm zufolge hat „ein starkes Engagement im Rahmen kirchlicher Aktivität einen Spill-over-Effekt in andere Bereiche des sozialen Lebens“.
Auch Jean-Pierre Bastian sieht das politische Handeln der Pfingstbewegung „als den Ausdruck der schöpferischen Kraft einer Zivilgesellschaft im Gegenüber zu den beiden dominierenden Kräften der brasilianischen Gesellschaft, der katholischen Kirche auf der einen Seite, dem Staat auf der anderen“. Er hält die evangelikalen Gruppen für identitätsstiftende Motoren, die neue kollektive Handlungsträger ermöglichen und teilweise das Kräfteverhältnis zwischen Arm und Reich verändern können.
Arenari Brandt von der brasilianischen Universität Fluminense hingegen argumentiert, der Pentekostalismus mit seiner absoluten, binären Opposition von Gut und Böse fördere auch in politischen Dingen die Beibehaltung einer unflexiblen, vereinfachten und personalistischen Haltung. Aus dieser Perspektive führen evangelikale Gemeinschaften kaum zur Überwindung klientelistischer und autoritärer Muster, sondern tragen zum Fortdauern des Personalismus und Populismus in der politischen Kultur Brasiliens bei.