Evangelikale Bewegung
Auf dem Vormarsch
„Der gesetzliche Mindestlohn beträgt 678 Reais“, erklärt ein Pastor seinen Gläubigen in Senador Pompeu, einer kleinen Stadt im trockenheißen Nordosten Brasiliens. 678 Reais entsprechen ungefähr 260 Euro. „Zehn Prozent von 678,00 sind 67,80 Reais“, fährt der Geistliche fort. „Das ist der Betrag, den ihr eurer Kirche jeden Monat schuldet.“
Seine Botschaft kommt an. Früher gab es in Senador Pompeu einmal Lager für Dürre-Flüchtlinge. Heute stirbt aber dank der Zero-Fome-Politik („Null Hunger“) der Regierung und des enormen Wirtschaftsaufschwungs der vergangenen Jahre kein Mensch mehr an Mangel. In den vergangenen zehn Jahren haben fast 40 Millionen Brasilianer den Aufstieg aus der Armut geschafft. Sie bilden heute die untere Mittelschicht – und sie sind die Zielgruppe evangelikaler Prediger.
Bruch mit der Tradition
In Brasilien bezieht sich der Begriff „Protestant“ im Allgemeinen auf die Gläubigen, die aus den Kirchen der Reformation entstanden sind, wie Presbyterianer, Lutheraner und Anglikaner. Als „evangelikal“ werden dagegen die Anhänger der Pfingst- und Neo-Pfingstkirchen bezeichnet.
Die evangelikalen Kirchen predigen eine Lebenseinstellung, die für das traditionell katholische Brasilien neu ist. Zum Beispiel werten sie wirtschaftlichen Erfolg als persönliche moralische Leistung. Sie legen Wert auf Disziplin und üben große soziale Kontrolle aus. Ihre Vorstellungen von Familienleben sind im Prinzip dieselben wie die der katholischen Kirche, aber sie fordern sie mit größerer Vehemenz ein. Sie sprechen ihre Gläubigen in Gottesdiensten stärker persönlich an, als das in katholischen Messen der Fall ist.
Die katholische Kirche leidet in Brasilien heute an Distanz zu ihren Anhängern und Anonymität unter den Gläubigen. Die evangelikalen Gemeinden halten dagegen eng zusammen. „Wenn man in eine Pfingstkirche hineingeht, wird man an der Tür empfangen, als käme man nach Hause“, sagt der Theologieprofessor Ubirajara Calmon Carvalho von der Universität Brasília. „Man wird beim Namen genannt und bekommt den Segen zugesprochen.“ Er urteilt, die Evangelikalen schüfen eine vertraute Umgebung in einer Gesellschaft, in der Fremden normalerweise mit Feindseligkeit und Misstrauen begegnet wird.
Pfingstkirchen predigen den Glauben an den Heiligen Geist und streben nach einem sittlichen Leben. Sie betonen persönliche Erweckungs- und Bekehrungserlebnisse. Ihre Liturgie gibt euphorischen Gefühlswallungen Raum und betont Ehe, Arbeit und Schutz vor Krankheiten. Gern wird von Wunder- und Heilserfahrungen berichtet.
Mittlerweile übernimmt die katholische Kirche von den Evangelikalen manche Praktiken. Die Historikerin Karina Bellotti von der Universidade Federal in Paraná sagt, der Wettbewerb mit ihnen bewege die katholische Kirche dazu, „mehr in Evangelisierung und in Medien zu investieren“.
Dämonisierung der Konkurrenz
Die Idee eines spirituellen Kriegs kennzeichnet die Pfingstler. Religiöse Konkurrenten gelten als dämonisch. Das gilt auch für Katholiken, die aus Sicht der Pfingstler nicht verdienen, „Christen“ genannt zu werden. Weil er während eines evangelikalen Gottesdienstes zwei katholische Heiligenplastiken verbrannte, wurde 2007 der Pastor Fábio Guimarães da Silva Pereira aus der Igreja Universal do Reino de Deus verklagt. Die Statuen aus dem 17. Jahrhundert standen unter Denkmalschutz.
Afrobrasilianische Kulte wie „Umbanda“ und „Candomblé“ lehnen die Pfingstler erst recht ab. Sie reden von „Macumbaria“, also Hexerei und schwarzer Magie, was die katholische Kirche in ähnlicher Weise tut. Andererseits kommt es auch vor, dass einzelne kultische Praktiken übernommen und mit einer neuen, evangelikalen Bedeutung belegt werden.
Die „geistliche Kriegsführung“ ist nicht nur auf den Tempel beschränkt, sondern erreicht auch Straßen, Schulen und sogar das Parlament. Die Wahl von Pastor Marco Feliciano von der Christlich-Sozialen Partei (Partido Social Cristão, PSC) zum Präsidenten der Menschenrechtskommission löste im März Empörung im ganzen Land aus. Der Prediger war wegen homophober und rassistischer Äußerungen längst in die Kritik geraten. Kurz nach Amtsantritt entließ er alle Mitarbeiter der Kommission und verkündete in einem Gottesdienst, das Gremium sei „vom Teufel beherrscht“ gewesen. Ob er sich wird halten können, war Mitte April, als dieser Artikel verfasst wurde, nicht abzusehen.
Politische Relevanz
In der Tat ist die Pfingstbewegung heute politisch höchst relevant. Ihre Leute treten bei Wahlen an und vertreten als Abgeordnete auf verschiedenen staatlichen Ebenen evangelikale Werte kompromisslos.
Bis in die späten 1970er Jahre hätten die Evangelikalen als unpolitisch gegolten, berichtet der Soziologe Ricardo Mariano von der Pontifícia Universidade Católica do Rio Grande do Sul. Im Zuge der Demokratisierung nach dem Ende der Militärdiktatur hätten sie aber unter dem Motto „Bruder wählt Bruder“ begonnen, die Kandidatur von Gleichgesinnten für politische Ämter zu unterstützen.
Die Pflingstler sind politisch ausgesprochen erfolgreich. 1982 gab es zwei evangelikale Parlamentsabgeordnete, heute sind es bereits 70. Das entspricht einem Anteil von etwa 14 Prozent. Der Zuwachs spiegelt das Wachstum der Pfingstkirchen in der Gesamtbevölkerung wider (siehe Kasten). Zum Vergleich: die herkömmlichen protestantischen Kirchen kommen nur auf 14 Abgeordnete.
Die Pfingstler behaupten, sie brauchten eigene parlamentarische Vertreter, um die Religionsfreiheit zu sichern. Zugleich nutzen sie aber die Politik, um ihre Botschaft zu verbreiten. Sie kämpfen gegen die Legalisierung von Prostitution, Abtreibung und Euthanasie. Sie lehnen einen Gesetzesentwurf, der Homophobie kriminalisieren soll, ab und stemmten sich auch lange gegen die rechtliche Anerkennung homosexueller Partnerschaften, die 2011 vom brasilianischen Verfassungsgericht anerkannt wurde. Sie machen Front gegen die Entkriminalisierung des privaten Gebrauchs von Drogen, mit dem die Regierung den Kampf gegen die organisierte Kriminalität voranbringen will.
Über die Hälfte der evangelikalen Abgeordneten sind Pastoren, Gospel-Sänger und Verwandte von Kirchenführern. Einige sind auch als Fernsehprediger aktiv und besitzen Radio- und TV-Sender oder auch Gospel-Plattenfirmen. Tatsächlich haben es manche Führungspersönlichkeiten der Pfingstler – ähnlich wie ihre Kollegen in den USA und anderswo – zu erheblichem Wohlstand gebracht.
Im Wahlkampf setzen evangelikale Politiker auf die Unterstützung von Pastoren und anderen Kirchenleuten. Sie hängen von dieser Zielgruppe ab, gehören aber verschiedenen Parteien an. Einig sind sie sich in den Punkten, in denen es um die Verteidigung der traditionellen christlichen Moral oder die Interessen ihrer Kirchen geht. Oft kooperieren sie dabei auch mit konservativen katholischen Gruppen.
Im Alltag angekommen
Heute ist der Einfluss der Pfingstler in praktisch allen Parteien ein Teil der brasilianischen politischen Kultur. Kandidaten aller ideologischen Überzeugungen umwerben sie. Andererseits widersetzen sich auch viele Gläubige der Vermischung von Religion und Politik. So blieben etwa die beiden evangelikalen Kirchen Igreja Cristã do Brasil und Igreja Deus é Amor, der zwölf Prozent der Pentekostalen angehören, unpolitisch, sagt der Soziologe Mariano.
Den Erfolg der evangelikalen Pfingstkirchen erklärt der Sozialwissenschaftler Orivaldo Lopes Júnior von der Universidade Federal do Rio Grande do Norte mit der Modernisierung Brasiliens. Brasilien habe sich lange nicht der westlichen Moderne mit ökonomischer Rationalität, säkularem Rechtsstaat und repräsentativer Regierung angeschlossen. Das Ende des religiösen Monopols der katholischen Kirche gehe aber mit erheblichen kulturellen Änderungen einher.
Mittlerweile hat sich seiner Einschätzung nach die Nation zu einer konsumorientierten und globalisierten Gesellschaft entwickelt – und die evangelikale Religiosität der schnellen und persönlichen Heilserfahrung finde nun breite Akzeptanz. In einer Zeit, in der sich die Gesellschaft schnell wandelt, wächst ausgerechnet die Glaubensrichtung besonders schnell, die eigentlich nur zu individuellem Wohlverhalten etwas zu sagen hat – aber nichts über große soziale Systeme.
Carlos Albuquerque arbeitet für das Brasilien-Programm der Deutschen Welle in Bonn
carlos.albuquerque@dw.de