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Geschlechtergerechtigkeit

Geschlechterdiskriminierung wächst in ökonomischen Krisen

Dass Wirtschaftskrisen Armut verursachen, ist bekannt, weniger aber, dass Frauen und Mädchen besonders betroffen sind. Das gilt zum Beispiel für Pakistan.
Kuhdung ist ein billiger Brennstoff, doch in Innenräumen gefährdet der Rauch die Gesundheit. Kuhdung ist ein billiger Brennstoff, doch in Innenräumen gefährdet der Rauch die Gesundheit.

Pakistan durchlebt eine schwere ökonomischen Krise. Bereits vor der verheerenden Flutkatastrophe im Sommer litt das Land unter ernsten wirtschaftlichen Problemen (siehe Kasten). Die Situation scheint ausweglos – vor allem für Frauen und Mädchen.

Die Wirtschaftsnobelpreisträgerin Esther Duflo (2021) hat über die unterschiedlichen geschlechterspezifischen Auswirkungen geschrieben. Sie stellte deutliche Unterschiede in der Ernährung von Jungen und Mädchen während Wirtschaftskrisen fest. Dürren führen in Ländern, in denen die Landwirtschaft ein wichtiger Sektor ist, oft zu ökonomischen Krisen – und die Sterberate von Mädchen steigt dann in einigen Weltregionen schneller als die von Jungen.

In Delhis Armenvierteln sterben weibliche Kinder Duflo zufolge auch mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit an Durchfall wie männliche. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Studie von Sonia Bhalotra (2019). Die Wirtschaftswissenschaftlerin der University of Bristol zeigte, dass Wirtschaftswachstum und Kindersterblichkeit von Mädchen im ländlichen Indien negativ korrelieren. Letztere sinkt in ökonomisch guten Zeiten, steigt aber während Rezessionen. In Pakistan wurden solche Studien bisher nicht durchgeführt. Doch aufgrund der kulturell sehr ähnlichen Bedingungen muss davon ausgegangen werden, dass dort die Mortalität von Mädchen in der aktuellen ökonomischen Krise überproportional steigt.

Verlorene Frauen und Mädchen

Wirtschaftlicher Abschwung trägt zu einem Phänomen bei, das Amartya Sen 1993 im British Medical Journal „fehlende Frauen“ („missing women“) nannte. Sen verglich die Geschlechterverteilung bei Geburt und in der Gesamtbevölkerung verschiedener Länder. In einigen stark männlich dominierten Gesellschaften, darunter China, Indien und Pakistan, fiel der Anteil der Frauen im Vergleich zur Geburtenstatistik um einige zehn Millionen zurück. Sen nannte folgende Gründe:

  • Mädchen sterben vorzeitig aufgrund von Vernachlässigung, so dass mehr Jungen ihrer Altersgruppe überleben.
  • Gebärfähige Frauen sterben durch inadäquate medizinische Versorgung, insbesondere im Zusammenhang mit Geburten.

Auf schockierende Weise zeigt sich hier die strukturelle Benachteiligung aufgrund des Geschlechts. Die aktuelle Krise wird die Lage in Pakistan verschärfen. Die Müttersterblichkeit ist ohnehin hoch: Pro 100 000 Geburten sterben 140 Frauen. Die Flut hat Infrastruktur zerstört, aber der klammen Regierung fehlt Geld, um Abhilfe zu schaffen. Im September schätzte der UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) die Zahl der schwangeren Frauen, die in den überschwemmten Gebieten medizinische Betreuung und Geburtshilfe benötigten, auf über 650 000.

Auch geschlechtsspezifische Gesundheitsrisiken nehmen zu. Sinken die Einkommen, sparen Haushalte an gesundem, nährstoffreichem Essen. Männliche Familienmitglieder essen in der Regel zuerst, und Frauen und Mädchen bekommen das, was übrig bleibt. Ihre Ernährung ist zunehmend unausgewogen.

Frauen bereiten die Mahlzeiten zu. Mangelt es an sauberer Energie, feuern sie mit billigem Material wie Holz oder getrocknetem Kuhdung, was die Luft in Innenräumen toxisch belastet. Laut einer Erhebung in indischen Haushalten ist Husten unter Frauen, die solche Brennstoffe verwenden, bis zu 60 Prozent häufiger. Doch Elektrizität oder Gas sind teuer – und besonders in Krisenzeiten wird darauf verzichtet. Zudem wurde auch Strom- und Treibstoffinfrastruktur durch die Flut zerstört.

Jungen bevorzugt

2002 aktualisierte Sen seinen Artikel im British Medical Journal. Er schätzte nun, in den betreffenden Ländern lebten 100 Millionen Frauen und Mädchen weniger, als eigentlich zu erwarten wäre. Diesmal fügte er einen weiteren Grund hinzu: geschlechtsspezifische Abtreibung. In Ländern mit einer starken Präferenz für Jungen wird weiblichen Föten regelmäßig das Recht auf Leben verwehrt.

In Indien und Pakistan erwarten Eltern, dass Söhne sie im Alter versorgen. Töchter dagegen heiraten und gehören dann zu einer anderen Familie. Arme Menschen, die sich eine Abtreibung nicht leisten können, setzen Mädchen oft aus. Das geschieht insbesondere in existenzbedrohenden Zeiten. Nach der Beobachtung von Bilquis Edhi, der Gründerin von Pakistans größter Hilfsorganisation für ausgesetzte Kinder, waren 95 Prozent der Kinder, die in den Wiegen der Edhi Foundation abgelegt wurden, Mädchen. Laut Edhi war Armut der Hauptgrund, warum ihre Familien nicht für sie sorgen konnten.

In der Bildung setzt sich die Benachteiligung von Mädchen fort. Denn Eltern investieren eher in die Schulbildung von Söhnen, der Bildungserfolg von Töchtern spielt kaum eine Rolle (siehe Mahwish Gul auf www.dandc.eu).

Auch dieser Trend verstärkt sich in Krisen. Daten aus dem ländlichen Pakistan zeigen: Rutschen Haushalte aufgrund von Wirtschaftskrisen in Armut ab, brechen die Töchter die Schule zuerst ab. Für die weibliche Bevölkerung Pakistans sind die langfristigen Konsequenzen der aktuellen Krise daher absehbar. Ohne Bildung bleiben den Betroffenen weniger und unattraktivere Arbeitsmöglichkeiten. Ökonomische Unabhängigkeit aber ist eine Voraussetzung für gesellschaftliche Mitbestimmung und Selbstermächtigung von Frauen (siehe einen früheren Beitrag von mir auf www.dandc.eu).

In Pakistan sind Frauen ohnehin im informellen Sektor überrepräsentiert. Ihnen fehlt also jede Absicherung im Fall des Jobverlusts (siehe Marva Khan on www.dandc.eu).

Kriminalität und Gewalt

Während ökonomischer Krisen steigen Gewalt und Kriminalität. Daten aus der Provinz Sindh zeigen einen starken Anstieg von Eigentumsdelikten zwischen Januar und Juli 2022, darunter Raub, Einbruch, Diebstahl und Motorrad-Diebstahl. Dies kann viele Gründe haben, aber die ökonomische Not ist sicherlich einer davon.

Sinkende oder entfallende Einkommen in einer Zeit steigender Preise sorgen zudem für erheblichen Stress. In Familien kann das häusliche Gewalt auslösen – und die Opfer sind in erster Linie wiederum Frauen und Mädchen. Zugleich reduziert die Verknappung der ökonomischen Ressourcen ihre Möglichkeiten, dieser Gewalt zu entfliehen.


Referenzen

Bhalotra, S., 2010: Fatal fluctuations? Cyclicality in infant mortality in India. Journal of Development Economics, 93(1), 7-19.

https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0304387809000388
An earlier version (2007) is freely available at: https://d-nb.info/986000647/34

Duflo, E., 2012: Women empowerment and economic development. Journal of Economic literature, 50(4), 1051-79.
https://www.aeaweb.org/articles?id=10.1257/jel.50.4.1051

Maji, P., Mehrabi, Z., and Kandlikar, M., 2021: Incomplete transitions to clean household energy reinforce gender inequality by lowering women’s respiratory health and household labour productivity. World Development, 139, 105309.
https://ideas.repec.org/a/eee/wdevel/v139y2021ics0305750x20304368.html

Sen, A., 1992: Missing women. BMJ: British Medical Journal, 304(6827), 587.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1881324/

Sen, A., 2003: Missing women — revisited. BMJ, 327(7427), 1297-1298.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC286281/


Sundus Saleemi ist Wissenschaftlerin am ­Zentrum für Entwicklungs­forschung (ZEF) der Universität Bonn.
sundus.saleemi@gmail.com

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