Wissenschaft
Forschung trifft Praxis
Von Fabian Scholtes
Fragt man Praktiker oder Politiker, warum Forschung in ihrer Arbeit nur eine geringe Rolle spielt, lautet die Antwort häufig, diese sei irrelevant oder unverständlich. Viele Wissenschaftler wiederum glauben, dass sich die Praktiker schlichtweg nicht für ihre Arbeit interessieren. So fühlen sich die einen nicht angesprochen, die anderen nicht gehört. Konkret haben Studien folgende Einschätzungen dokumentiert:
– Es gebe kaum praxisorientierte Forschung, weil sich Wissenschaftler nicht für diese Themen interessierten und es keine entsprechenden Anreize gebe.
– Forschungsergebnisse seien meist nicht zugänglich, schlecht dargestellt oder nicht praxistauglich; Empfehlungen gingen oft an der Realität vorbei.
– Praktiker seien weder gewillt noch in der Lage, hochwertige Forschung aufzunehmen; stattdessen grenzten sie sich von „denen im Elfenbeinturm“ ab.
– Praktiker nähmen nur wahr, was ihnen passe. Sie sträubten sich, kritische Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen, und versuchten, Forschung zu instrumentalisieren.
– Es gebe eine kulturelle Kluft, weil es den einen um Wahrheit, den anderen um Wandel gehe. Die einen wollten akkurate, publizierbare Daten, die anderen schnelle, praktikable Ergebnisse.
An jedem dieser Aspekte mag etwas dran sein. Hinzu kommt die Unkenntnis, wie und unter welchen Bedingungen die andere Seite arbeitet. Das führt zu unrealistischen Erwartungen und damit zu Enttäuschungen. Trotzdem finden nicht nur Beratungsfirmen oder AdvocacyInitiativen, sondern auch Wissenschaftler immer wieder bei Durchführungsorganisationen Gehör.
Was Forschung praxisrelevant macht
Offiziell soll Forschung für gegebene Probleme bessere Lösungen bieten, sie in neues Licht stellen oder auch neue Probleme sichtbar und verständlich machen. Dabei erwarten entwicklungspolitische Institutionen möglichst belastbare Evidenz als Entscheidungsgrundlage. Das entspricht auch dem Ideal der Forschung, neutral Fakten und Erklärungen zu liefern.
Dabei erhoffen sich Praktiker allerdings auch, dass die Forschung ihre bestehende Praxis wissenschaftlich untermauert und legitimiert. Sie soll nicht nur mit der Arbeitsweise, sondern auch den grundlegenden Annahmen und Wertvorstellungen der Praxis zusammenpassen – oder zumindest so gedeutet werden können.
In der Praxis werden Forschungsergebnisse indessen nur selten für konkrete Entscheidungen genutzt, sie liefern eher Ideen und Orientierungen. Umso mehr kommt es darauf an, wer eine wissenschaftliche Position vertritt – und wie er oder sie das tut. Renommee und Überzeugungskraft, aber auch persönliche Verbindungen und die Kompatibilität mit Wertvorstellungen auf der Praxisseite werden dann teilweise wichtiger als die Inhalte selbst.
Neues Wissen kann zum einen mit der Zeit in Personen und Institutionen „einsickern“ und nach und nach zu neuen Orientierungen führen. Solch schleichenden Wandel kann Forschung durch Hartnäckigkeit befördern. Zum anderen ist Forschung dann gefragt, wenn Paradigmen plötzlich in Bewegung geraten. So wird seit Beginn der globalen Finanzkrise 2007/2008 beispielsweise der Marktliberalismus hinterfragt und die Rolle des Staats neu diskutiert.
Es kommt auch auf den richtigen Zeitpunkt an. Kommt die Forschung zu spät, ist die Praxis womöglich schon selbst zu – ähnlichen oder anderen – Ergebnissen gekommen. Kommt das Wissen zu früh, wenn sich die Praktiker ihrer Sache noch sicher sind, spüren diese keinen Beratungsbedarf und sind für neue Einsichten nicht offen.
Würden Durchführungsorganisationen stets nach einem idealtypisch linearen Entscheidungsprozess – von Problemanalyse über Zielsetzung und Strategie zu Umsetzung und Monitoring – handeln, wäre absehbar, wann welches Wissen benötigt wird. Die Praxis funktioniert aber meist anders. Sie ist oft sehr unübersichtlich. Typisch ist pragmatisches „Durchwurschteln“ in kleinen, erfahrungsbasierten Schritten. Forschungsergebnisse sind dabei nur einige von vielen relevanten Faktoren und werden im Zweifel vernachlässigt.
Trotzdem gibt es durchaus Prozesse, auf die sich Forscher ausrichten können. Bestimmte Formen von Wissen sind in der Entwicklungspolitik in Verhandlungen wichtig, andere für die Implementierung. Das mag von außen schwer zu erkennen sein. Die Forschung wird aber umso relevanter, je näher die Forscher an der Praxis dran sind und sich auf ihre Bedrüfnisse einstellen.
Ein Ergebnis des Forschungsprojekts RAPID (2004) am Overseas Development Institute war: Wissenschaftler bringen ihre Ergebnisse am besten in die Praxis ein, wenn sie ihre Bemühung wie ein Projekt strukturieren – mit klaren Zielen, Strategien, Zeitplänen, Partnern, Kunden und so weiter. Dieses Vorgehen ist Forschern nicht fremd, sie müssen jede Publikation und jeden Drittmittelantrag so organisieren und berücksichtigen, „wie das Geschäft funktioniert“, wie die Nachfrage aussieht und welche Allianzen und Referenzen nötig sind.
Wenn Forscher auf die Entwicklungspolitik einwirken wollen, haben sie dafür durchaus Möglichkeiten:
– Praxisrelevante Fragen sollten von vornherein Teil des Erkenntnisinteresses sein und Forschungsdesign und Methoden mitprägen. Das widerspricht keineswegs dem Prinzip, dass wissenschaftliche Forschung ergebnisoffen sein muss.
– Nötig ist eine klar formulierte Strategie: Wofür werden die Ergebnisse gebraucht, wo und wann können sie Einfluss haben? Wie funktionieren die Zielgruppen und wie muss Wissen für sie aufbereitet werden?
– Zusammenarbeit basiert auf Vertrauen, und dafür ist persönlicher Austausch wichtig. So kann eine gemeinsame inhaltliche Grundlage geschaffen werden. Leider geschieht es oft, dass Forscher Praktikern erzählen, was diese schon wissen, oder dass Praktiker Fragen stellen, die sich beim heutigen Forschungsstand nicht beantworten lassen. Anknüpfungspunkte und Synergien sollten deshalb gemeinsam identifiziert werden.
– Es ist wichtig, Policy Champions zu kennen, die neue Erkenntnisse in den entwicklungspolitischen Institutionen vorantreiben und verankern. Solche Schlüsselpersonen stehen in der Hierarchie nicht immer oben. Wichtig sind auch Wissensmakler, die geschickt zwischen Praxis und Forschung vermitteln können.
Eine häufige Aufforderung an die Wissenschaftler ist: Sie sollten kompetent kommunizieren. Das kann ähnlich wichtig sein wie die Forschung selbst, denn Resultate werden dann beachtet, wenn sie konkret, positiv, prägnant und anschlussfähig dargestellt werden und den Praktikern der Bezug zu ihrer Arbeit schnell klar wird.
Dieser Appell ist zwar nicht originell, wird aber selten befolgt. Ein Grund ist, dass dafür fast eine journalistische Ausbildung nötig wäre. Ein anderer ist, dass Vereinfachung oft Verfälschung birgt. Das riskieren Forscher ungern.
In der Tat vermitteln viele Studien den Eindruck, es gehe vor allem um Kommunikationsprobleme. So einfach sind die Dinge aber nicht. Sicherlich finden Botschaften umso eher Gehör, je klarer sie sind. Es reicht aber nicht, Ergebnisse mediengerecht aufzubereiten. Wissen ist kein Objekt, Wissen wird im Gespräch geschaffen. Ein Workshop, in dem Forscher und Praktiker Ergebnisse und deren Folgen diskutieren, kann wirkungsvoller sein als ein noch so ausgefeilter Policy-Brief.
Die Holschuld der Praxis
Umso mehr stellt sich die Frage nach dem Beitrag der Praktiker. Die meisten Studien über die Interaktion von Wissenschaft und Entwicklungspolitik richten ihre Empfehlungen an die Forscher, aber sie sollten auch Folgen für die Durchführungsorganisationen haben. Diese müssen sich auf ergebnisoffene Forschung einlassen; sie müssen sich in die Planung der Forschung aktiv einbringen und bei der Vernetzung und dem Abgleich von Kenntnisständen mitwirken.
So wie Forscher Fähigkeiten von Policy Entrepreneurs entwickeln sollen, müssen Praktiker den Umgang mit wissenschaftlichen Ergebnissen üben. Effektive Kommunikation bedeutet eben nicht nur, dass Wissenschaftler für komplexe Ergebnisse einfache Worte finden. Sie bedeutet auch, dass Praktiker ihre Fragen präzise und verständlich stellen, denn auch sie haben einen Fachjargon, dessen Kenntnis nicht einfach vorausgesetzt werden darf. Wenn die Entwicklungspolitik sich tatsächlich stärker auf Wissenschaft stützen soll, müssen auch ihre Akteure etwas dafür tun.