Weltbank
Mehr Verantwortung für Entwicklungsländer
Von Mario Stumm
Das Jahr 2010 war das Jahr der institutionellen Reformen für die Weltbank. Nach der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise musste sich die Organisation neuen Aufgaben und Herausforderungen stellen. Bei der Frühjahrstagung 2010 beschlossen die Anteilseigner eine Kapitalerhöhung, eine neue Strategie und die Einleitung einer internen Reformagenda, die die Weltbank effizienter und legitimer machen soll. Die Weltbank bietet ein wichtiges Forum für den Dialog zwischen Industrie- und Entwicklungsländern über globale Herausforderungen – für ihre Legitimität ist es daher wichtig, dass Entwicklungs- und Schwellenländer bei Entscheidungen eine aktivere Rolle bekommen. Deshalb war ein wichtiger Teil der Reformagenda die Stimmrechtsreform („Voice Reform“), die Entwicklungs- und Schwellenländern mehr Mitspracherecht bringt.
Aus deutscher Sicht musste die Reform allerdings einen Mechanismus finden, der die Stimmen nach folgenden Prinzipien verteilt:
– Allgemeingültig: Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Entwicklungs- oder Industrieländer ist für die Ermittlung des Stimmgewichts nicht maßgeblich.
– Unabhängig: Ein Stimmrechtssystem, das unabhängig vom IWF oder einer anderen Institution erstellt wird, unterstreicht das eigenständige Mandat der Weltbank.
– Regelbasiert: Die Indikatoren sollen
objektiv und nachvollziehbar sein. Sie sollen nicht nur die Wirtschaftsleistung eines Mitglieds berücksichtigen, sondern auch dessen Beitrag zum Mandat der Weltbank – wie beispielsweise geleistete Beiträge zur International Development Association (IDA).
– Transparent: Ein Stimmrechtssystem sollte einfach und transparent sein, um die Legitimität der Institution zu steigern.
– Dynamisch: In regelmäßigen Abständen (5 Jahre) sollten die Stimmgewichte überprüft und gegebenenfalls angepasst werden.
– Permanent: Die Stimmrechtsformel sollte auf lange Sicht nicht verändert werden, um Kontinuität zu wahren.
Für die Entwicklungsländer war vor allem wichtig, ihr Mitspracherecht zu erhöhen. Deshalb forderten sie die gleichgewichtige Repräsentation von Industrie- und Entwicklungsländern im Direktorium der Gouverneure. Jede Gruppe sollte 50 Prozent der Stimmen erhalten („Parität“). Dies hätte eine Umverteilung von 7,4 Prozent der Stimmen von Industrie- zu Entwicklungsländern bedeutet – ohne nachvollziehbare Grundlage. Im Gegenteil: Die Stimmenverteilung wäre statisch festgeschrieben und hätte das Gruppendenken zwischen Industrie- und Entwicklungsländern in der Weltbank noch vertieft.
Die Verhandlungen wurden deshalb in zwei Phasen aufgeteilt: In der ersten Phase wurde die Anpassung der Basisstimmen, in der zweiten die der Anteilseignerstimmen diskutiert (Definition siehe Kasten). Bei der Jahrestagung 2008 wurde beschlossen, die Basisstimmen zu verdoppeln und bei 5,55 Prozent der Gesamtstimmenzahl zu stabilisieren. Die Entwicklungsländer erhielten dadurch einen Stimmenzuwachs von 1,46 Prozent. Zusätzlich wurde ein dritter afrikanischer Sitz im Exekutivdirektorium eingerichtet.
Die zweite Phase sollte nach dem Willen der G20-Staaten bei der Frühjahrstagung 2010 abgeschlossen werden. Deutschland und andere Industrieländer waren sich einig, dass die Anteilseignerstimmen individuell bewertet werden sollten – und damit auch die Beteiligung am Kapitalstock der International Bank for Reconstruction and Development (IBRD oder Weltbank), die jedes Mitglied zu tragen hat. Allerdings ließen sich die Entwicklungsländer lange Zeit nicht auf eine Diskussion über Prinzipien für ein Stimmrechtssystem ein. Sie forderten stattdessen weiterhin die Gleichgewichtung gegenüber Industrieländern. Deshalb sicherten die G20 in ihrem Abschlusskommuniqué in Pittsburgh im September 2009 den Entwicklungsländern zu, ihnen zusätzlich mindestens drei Prozent der Stimmgewichte zuzuteilen, sowie kleine Niedrigeinkommensländer vor Stimmverlusten zu schützen. Um die Diskussion um Stimmrechtsprinzipien zu erleichtern, musste im Vorhinein ein Modell mit einer klaren Berechnung entwickelt werden, das den Verhandlungspartnern die Berechnung und das Endergebnis transparent darstellt.
Das Pooling-Modell
Das deutsche Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) erarbeitete auf Grundlage einer finnischen Idee das so genannte Pooling-Modell. Dabei wird in einem ersten Schritt das weltwirtschaftliche Gewicht auf Grundlage des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Jahre 2006 bis 2008 bestimmt, was eine erhebliche Vereinfachung gegenüber der komplexen IWF-Formel darstellt. Dabei wird das BIP zu 60 Prozent zu Marktpreisen und zu 40 Prozent zu Kaufkraftparitäten berechnet. In einem zweiten Schritt geben die Industrieländer einen gewissen Prozentsatz (10 %, 15 % oder 20 %) ihrer Stimmen in einen Stimmen-Pool. Diese Stimmen werden in einem dritten Schritt an alle IDA-Geber auf Grundlage ihrer Anteile an den letzten drei IDA-Wiederauffüllungen zurückverteilt. Dieser Umverteilungsmechanismus ermöglicht, hohe Beiträge zur IDA zu honorieren, ohne dass Entwicklungsländer Stimmen verlieren. Entwicklungsländer können sogar zusätzliche Stimmen aus dem Pool erhalten, wenn sie selbst finanziell zur IDA beitragen. In einem vierten Schritt erhalten alle kleinen Niedrigeinkommensländer als Schutz 250 zusätzliche Stimmen, für die sie kein Kapital hinterlegen müssen. Alle fünf Jahre soll die Berechnung des Modells überprüft und die Stimmenverteilung angepasst werden.
Das BMZ stellte dieses Modell zuerst den EU-Mitgliedsländern (plus Island, Norwegen und Schweiz) vor. Die Europäer einte trotz einiger unterschiedlicher Interessen ihre Unterstützung für die Weltbank, denn sie haben in besonderem Maße zu Wiederauffüllungen der IDA seit ihrer Gründung beigetragen: Insgesamt hat die EU+ 53,75 Prozent aller Beiträge geleistet. Nach intensiven Diskussionen einigte sich die gesamte EU+-Gruppe darauf, das Pooling-Modell in den Verhandlungen zu unterstützen.
Erfolgreiche Reform
Die Weltbank nahm das europäische Modell auf. Sie präsentierte gleichsam einen Kompromissvorschlag, der viele Prinzipien des Pooling-Modells übernahm. Dieser war zwar sehr komplex und enthielt viele Ausnahmeregelungen zugunsten von Einzelinteressen. Er ermöglichte jedoch einen schnellen Kompromiss zwischen Industrie- und Entwicklungsländern sowie zwischen Europa und den USA.
Die Europäer stimmten schließlich dem Kompromissvorschlag zu, um die Verhandlungen bis zur Frühjahrstagung im April 2010 erfolgreich abzuschließen und die Reformfähigkeit der Weltbank nicht zu gefährden. Weiterhin konnten sie folgende Verhandlungsziele absichern:
– Die Entwicklungsländer akzeptierten, dass bei der Stimmrechtsverteilung neben der Wirtschaftsleistung auch die IDA-Beiträge eines Landes berücksichtigt werden. Die Weltbank nahm eine stärkere Berücksichtigung von IDA-Beiträgen in ihren Vorschlag auf.
– Die Weltbank hat nun eine vom IWF unabhängige Stimmrechtsbewertung, die ihrem Entwicklungsmandat stärker gerecht wird.
– Das Pooling-Modell hat gezeigt, dass es möglich ist, trotz der unterschiedlichen politischen Interessen ein transparentes, regelbasiertes und allgemeingültiges Modell nach objektiven Kriterien zu entwerfen.
– Das Pooling-Modell hat dazu beigetragen, in dieser Frage Europa ein gemeinsames Profil in der Weltbank zu verleihen.
Darüber hinaus konnte im Abschlusskommuniqué der Weltbank-Frühjahrstagung 2010 verankert werden, dass bis zum Jahr 2015 ein permanentes, transparentes, regelbasiertes und allgemeingültiges Stimmrechtsmodell erarbeitet wird. Bei der Jahrestagung 2011 soll hierfür ein Arbeitsprogramm vorgestellt werden, an dem Deutschland und Europa sich weiterhin aktiv beteiligen wollen.
Neben den 1,46 Prozent durch die Basisstimmenerhöhung erhielten die Entwicklungsländer durch diese Reform zusätzlich 3,13 Prozent der Stimmrechte (insg. 4,59 Prozent) – und damit auch die Verantwortung im richtigen Augenblick. Viele stärker entwickelte Schwellenländer – allen voran China, das Deutschland als drittgrößter Anteilseigner bei der Reform abgelöst hat – übernahmen bereits bei der gerade abgeschlossenen IDA16-Wiederauffüllung mehr finanzielle Verantwortung. Es bleibt aber abzuwarten, ob die nun stärker eingebundenen Mitteleinkommensländer zukünftig bei strittigen Fragen der Geschäftpolitik der Weltbank auch konstruktiv mitwirken. Nur dann hat die neue Stimmrechtsverteilung ihre politischen Fernziele wirkungsvoll erreicht.