Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Psychische Probleme

Metaphysische Erklärungen

Psychische Gesundheit ist in Afrika ein Tabuthema. Erkrankt jemand, wird die gesamte Familie als verflucht angesehen. Doch psychische Störungen nehmen zu und können nicht länger ignoriert werden. Ursache dieser Entwicklung sind zahlreiche soziale Veränderungen der vergangenen 50 Jahre.
Kinder vor einem Krankenhaus für psychische Gesundheit in Monrovia, Liberia. Nach der Ebola-Krise in dem westafrikanischen Land mit tausenden Toten kämpfen viele Menschen mit psychischen Problemen. Abbas Dulleh/picture-alliance/AP Photo Kinder vor einem Krankenhaus für psychische Gesundheit in Monrovia, Liberia. Nach der Ebola-Krise in dem westafrikanischen Land mit tausenden Toten kämpfen viele Menschen mit psychischen Problemen.

Die meisten Afrikaner betrachten psychische Störungen als Ergebnis eines äußeren Angriffs auf den Körper. So wird ein Mensch, der an einer psychischen Erkrankung leidet, als verhext oder verzaubert betrachtet, und man spricht von bösen Geistern, um den Zustand eines psychisch kranken Menschen zu beschreiben. Auch wer diese Ansicht nicht teilt, kann kaum leugnen, dass äußere Faktoren einen Einfluss auf interne Vorgänge haben, die zu psychischen Problemen führen. Vielfältige äußere Gründe können die Zunahme psychischer Krankheiten in Afrika erklären.

Eine große Rolle spielt der Verlust des sozialen Schutzes durch die Familie. Im kollektiven Verständnis bildet die Familie in Afrika eine solidarische Einheit, die dabei hilft, die vielen Schwierigkeiten des Lebens zu meistern. Doch der Vormarsch des Wirtschaftsliberalismus und der Trend zur Individualisierung unserer Gesellschaften hat diesen Mythos allmählich zerstört. Die Familie bietet nicht mehr die verlässliche Grundlage, um auf Ungleichheiten und gesellschaftliche Schwierigkeiten zu reagieren. Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Scheidung werden zunehmend als das Scheitern des individuellen Menschen wahrgenommen. Ohne den Schutz der familiären Solidarität kann das Gefühl des gesellschaftlichen Versagens zu schweren Depressionen oder anderen psychischen Störungen führen.

Eine weitere Ursache für psychische Probleme liegt in der Ernährung. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass ein Ungleichgewicht der Darmflora psychische Störungen begünstigen kann. Mangelernährung kann in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. In Afrika haben sich die Ernährungsgewohnheiten dahingehend geändert, dass immer mehr verarbeitete Lebensmittel importiert werden, während eine gesunde, lokale Ernährungsweise in den Hintergrund tritt. Die Bauern wenden sich von den alten lokalen Sorten ab und bauen an, was sich gut exportieren lässt – oder wandern auf der Suche nach lukrativeren Jobs in die Städte ab.

Die Enge der Elendsviertel, der tägliche Kampf ums Überleben und das Gefühl des Scheiterns, das durch jahrelange Arbeitslosigkeit in der Stadt entsteht, können zu Neurosen führen (siehe auch Rezensionsbeitrag im E+Z/D+C 2019/06, Schwerpunkt). Betroffene sind an den Hauptstraßen afrikanischer Städte zu sehen: Sie wandern in zerrissenen Kleidern umher, haben sich schon lange nicht mehr gewaschen und leben von Essensresten, die sie im Müll finden. Manche von ihnen leiden auch unter Psychosen.

Auch die Veränderung des Wirtschaftssystems in Afrika trägt zu psychischen Störungen bei. Der Übergang von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft hat viele Menschen aus dem Gleichgewicht gebracht. Früher basierte das soziale Gefüge auf dem Erhalt des Clans, heute geht es um Wettbewerb und persönlichen Erfolg. In armen Gegenden ist der Kampf ums Überleben zu einem gewalttätigen, ja anarchischen Kampf geworden. Dabei trifft das Ellenbogenverhalten, zu dem die Rivalität untereinander führt, psychisch labile Menschen besonders. Das fängt schon in der Schule an: Der Wettbewerb unter den Schülern – in überbelegten Klassen und bei überlasteten Lehrern – führt zu einer Form sozialer Selektion. Die „Schwachen“, also diejenigen, die am empfindlichsten auf Stress und Druck reagieren, gelten als „verrückt“ und werden von Schule und Gesellschaft auf den Prüfstand gestellt. Betroffene reagieren mit unterschiedlichen Strategien, um dem Druck zu entkommen: vom Konsum psychotroper Substanzen bis zur Flucht in religiöse Sekten.

Erwähnt werden sollte nicht zuletzt das Gefühl von Verlassenheit, das bei Kindern zu Neurosen führen kann. Dieses ist auf die Abwesenheit der Eltern zurückzuführen, die allzu beschäftigt damit sind, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, oder auf Konflikte zwischen den Elternteilen. Auch Eltern, die zu sehr auf sozialen Erfolg fokussiert sind und auf keinen Fall scheitern wollen, können ihren Kindern psychischen Schaden zufügen.


Hexerei oder böse Geister

Wenn ein Familienmitglied psychisch erkrankt, wird es in vielen ländlichen Regionen Afrikas häufig von der Familie ausgeschlossen. Denn ein Geisteskranker gilt als Fluch für die ganze Familie. Sie kann sozial geächtet werden, wenn eines ihrer Mitglieder als verrückt angesehen wird. Die Mädchen und Frauen dieser Familie können nicht in andere Familien einheiraten – zu groß ist die Angst, auch ihre Nachkommen könnten vom Wahnsinn betroffen sein. Oft erkennt die Familie psychische Probleme nicht als solche an, sondern sieht die Ursache in Hexerei, bösen Geistern oder anderen metaphysischen Übeln.

Wenn die Ursachen einer Geisteskrankheit in der Metaphysik gesehen werden, ist es logisch, auch metaphysische Lösungen für ihre Heilung zu suchen. Gängigste Praxis ist es, die betroffene Person zu traditionellen Heilern oder Priestern von Ahnenriten zu bringen – in Togo, Benin oder Nigeria zum Beispiel in Voodoo-Tempel. Dort werden Zeremonien durchgeführt, in denen die Ahnen oder Götter zu Hilfe gerufen werden. Wenn psychische Störungen mit Gewaltausbrüchen einhergehen, wird der Betroffene oft brutal geschlagen, wochen- oder monatelang gefesselt, zum Teil ohne Versorgung mit Nahrung, oder auf sich allein gestellt in den Busch oder Wald gejagt. Manche Familien, die sehr an ihren psychisch kranken Kindern hängen, bringen diese auch in die Stadt, wo es bessere Behandlungsmöglichkeiten gibt.

Des Weiteren kommen religiöse Exorzismen zum Einsatz, um psychische Störungen zu „behandeln“. Sowohl christliche als auch muslimische Exorzisten sind in Westafrika auf dem Vormarsch, wo die Zahl religiöser Sekten in rasantem Tempo zunimmt. Für Exorzisten sind psychische Erkrankungen das Werk böser Geister. In Zeremonien und Andachten versuchen sie, den Betroffenen davon zu befreien. Gewalttätigkeit von Geisteskranken wird damit erklärt, dass sie in der Hand satanischer Dämonen sind, die es zu bekämpfen gilt. Der Erfolg religiöser Praktiken ist wissenschaftlich nicht erwiesen. Gewiss ist aber, dass der Glaube an die göttliche Kraft zur Heilung führen kann. Wenn das geschieht, wird es oft als Wunder angesehen. Dazu gibt es zahlreiche Erfahrungsberichte in den Medien.

Wenn traditionelle und religiöse Praktiken wirkungslos bleiben, bleibt die Psychiatrie als letztmögliche Lösung. In allen Ländern Westafrikas ist die Psychiatrie das Stiefkind in der Medizin. Die Regierungen stellen keine ausreichenden Ressourcen für diesen wichtigen Gesundheitssektor bereit, weshalb er für Medizinstudenten unattraktiv ist. Nur wenige Ärzte und Krankenschwestern sind auf die Betreuung von Menschen mit psychischen Problemen spezialisiert. In westafrikanischen Ländern kommen oft nur wenige Dutzend Ärzte auf viele Millionen Menschen. Viele psychiatrische Kliniken stammen noch aus der Kolonialzeit und sind in schlechtem Zustand. Sie werden als Zentren betrachtet, in die Menschen abgeschoben werden, die in der Gesellschaft keinen Platz mehr haben. Das extrem negative gesellschaftliche Image psychisch Kranker schließt auch die Annahme ein, dass es keine medizinische Heilung für sie geben kann.

Trotz der schlechten Voraussetzungen und allen institutionellen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten machen afrikanische Psychiater einen guten Job. Berichte von Menschen, die durch den Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik genesen sind, sind zwar selten. Das liegt aber vor allem daran, dass die geheilten Menschen diese Episode ihres Lebens am liebsten vergessen und nicht darüber reden wollen. Grund ist die beschämende Art und Weise, wie die Gesellschaft psychisch Kranke betrachtet.

Allerdings steht eine psychiatrische Behandlung längst nicht jedem offen. Wer keine Krankenversicherung hat, muss selbst für die Kosten aufkommen. Sie liegen etwa zwischen 50 000 und 150 000 CFA-Francs pro Monat (zwischen 80 und 200 Euro) – ein Betrag, den nicht jede Familie, und dazu noch über einen längeren Zeitraum, aufbringen kann. Tatsächlich können sich nur Wohlhabende eine solche Behandlung leisten. So finden sich in Psychiatrien zum Beispiel Menschen aus reichen Schichten, die einen Drogenentzug machen.

Psychisch Kranke, für die eine Betreuung in einer psychiatrischen Einrichtung nicht finanzierbar ist und denen die Familie nicht hilft, fristen ihr Dasein auf der Straße und leben von Müll. Eine echte Aufklärung der afrikanischen Bevölkerung über dieses sensible Thema ist dringend geboten, damit sich sowohl das Image psychisch Kranker als auch ihre Behandlung ändern.


Samir Abi hat einen Abschluss in Bevölkerungswissenschaften und Entwicklung von der Universität Lüttich, Belgien, und arbeitet für Visions Solidaires, eine nichtstaatliche Entwicklungsorganisation in Togo.
samirvstg@gmail.com

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