Vernachlässigte Kulturpflanzen
Bedeutend für eine nachhaltige Ernährung
Zu den am häufigsten angebauten Nutzpflanzen kommen nur ein paar weitere hinzu, von denen sich die Menschheit fast ausnahmslos ernährt: Die Erdbevölkerung bezieht ihre Energie aus lediglich 20 Nutzpflanzen. Weltweit sind jedoch mehr als 31 000 Nutzpflanzen dokumentiert, die für die menschliche Ernährung, als Tierfutter, Medizin, Gift-, Textil-, Bau- oder Brennstoff verwendet werden. Über 5 500 davon sind essbar.
Unbekannte Esspflanzen mit seltsam anmutenden Namen wie Bittermelone, Spinnenpflanze oder Gemüsejudenpappel haben zwar in Teilen Subsahara-Afrikas oder Asiens (noch) eine große Bedeutung (siehe Kasten). Sie zählen aber zu den sogenannten vernachlässigten und unternutzten Kulturarten (Neglected and Underutilised Species – NUS). Als solche werden sie von der Agrarforschung, Pflanzenzüchtung oder der Politik kaum beachtet oder sogar vollkommen ignoriert.
Es handelt sich um wilde oder halbdomestizierte Varianten und Arten, die in der Regel nicht als Produkte gehandelt werden. Das hat zur Folge, dass aus ihren Varianten keine kommerziellen Sorten gezüchtet werden. Die Züchter betrachten sie, wenn überhaupt, lediglich als Träger genetischer Vielfalt. Deshalb gibt es kaum dokumentierte Erfahrungen über produktive Anbauformen, geschweige denn darüber, wie man sie gewinnbringend vermarktet. Sie kommen weder in den Anbau- oder Handelsstatistiken vor, noch sind sie in regionale oder globale Wertschöpfungsketten nennenswert integriert.
Man bezeichnet sie als unternutzt, weil sie aus ernährungsphysiologischer Sicht ein großes, zumeist unerkanntes Potenzial bergen. Aufgrund ihrer hohen Nährstoffdichte – insbesondere bei den wichtigen Mikronährstoffen – könnten sie bei der Bekämpfung des versteckten Hungers, das heißt der Mikronährstoffdefizite in unserer Ernährung, eine große Rolle spielen. Von einer solchen Mangelernährung sind rund 2 Milliarden Menschen betroffen, insbesondere die arme Landbevölkerung in Entwicklungsländern. Am verbreitetsten ist der Mangel an Jod, Eisen und Vitamin A. Die Folgen davon sind starke Entwicklungsverzögerungen und gesundheitliche Schäden, die vermeidbar wären.
Unternutzte Pflanzen haben in manchen Regionen aber große Bedeutung. So erfreut sich die Gemüsejudenpappel (Corchorus olitorius) im Mittleren Osten als Gericht mit dem Namen Molokhia größter Beliebtheit. Das Gemüse schmeckt wie erdiger Spinat, und gewürzt mit Knoblauch, Limone und Koriander dient es als kräftige Gemüsebeilage zu Reis. Richtig zubereitet, enthält sie nicht nur viel Eiweiß (4,5 Prozent), sondern ist reich an Vitamin B6, A, C und Eisen. Auch in Kenia wird das indigene Blattgemüse unter dem lokalen Namen Murenda oftmals zusammen mit Kuhbohnenblättern in Milch gekocht. In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprogramm HORTINLEA (Horticultural Innovation and Learning for Improved Nutrition and Livelihood in East Africa) der Humboldt-Universität zu Berlin, in dem das Seminar für Ländliche Entwicklung (SLE) mitforschte, wurden Kleinbauern in Westkenia befragt, welche der indigenen Blattgemüsekulturen am robustesten gegenüber Wetterextremen sind. Im Vergleich zu anderen Blattgemüsekulturen gilt die Gemüsejudenpappel als sehr widerstandsfähig und wächst auch auf marginalen Standorten gut an. Sie verträgt Stressfaktoren, auch solche, die durch den Klimawandel verstärkt werden. Bei zu großer Trockenheit kann sie sich aufgrund ihrer langen Pfahlwurzel gut versorgen. Zu viel Feuchtigkeit scheint ihr auch nicht viel auszumachen.
Dennoch wird sie nur von wenigen Kleinbauern auf sehr kleiner Fläche angebaut und kaum vermarktet. Konsumenten beklagen, dass die Blätter beim Kochen zu stark verschleimen, ähnlich wie bei Okra, und das Blattgemüse daher zu sehr eindickt. Das sei nicht jedermanns Geschmack. Über verbesserte Zubereitungsmethoden und Züchtung könnte das Problem behoben werden.
Neue Schattenseiten
Manche vernachlässigten Kulturpflanzen haben ihr Schattendasein aber verlassen, wie es das Beispiel von Quinoa zeigt. Seit den 90er-Jahren ist die Nachfrage in gesundheitsbewussten Kreisen in Europa nach dem glutenfreien, protein- und vitaminreichen Getreide aus den Anden enorm gestiegen. Dass unternutzte Pflanzen zum „Superfood“ aufsteigen, birgt aber wiederum Schattenseiten. Der Transport aus Bolivien und Peru bis Europa ist lang, was Klimabelastungen zur Folge hat.
In der Andenregion galt der Inkaweizen lange Zeit als „Arme-Leute-Essen“. Er gedieh besonders gut auf marginalen Böden. Durch den jüngsten Hype werden mehr und mehr Flächen für Quinoa genutzt. Die Kleinbauern aus den Anden verzehren Quinoa nun nicht mehr selbst, sondern verkaufen ihre Ernte lieber. Selbst essen die Familien nun vermehrt weniger nährstoffreiche Grundnahrungsmittel wie Nudeln oder Mais.
Trotzdem verdienen sie nicht viel an Quinoa, denn oftmals bleibt der Gewinn in den Händen der Exporteure. Politische Instrumente sind hier gefragt. Kleinbauern wären so zu unterstützen, dass sie Funktionen in der Quinoa-Wertschöpfungskette übernehmen und somit am Boom besser teilhaben können. Beim Kauf von Quinoa in Europa sollte man daher auf Fair Trade und Biosiegel achten. Alternativ kann man auch auf regional produzierten Buchweizen umsteigen, der fast genauso viel Protein enthält und als Pseudogetreide ebenso glutenfrei ist.
Es bleibt noch viel zu tun, damit die nährstoffreichen vernachlässigten Kulturpflanzen parkettfähig werden und gleichzeitig armen Kleinbauern zu verbesserter Ernährung und Einkommen verhelfen. Statt einer weiteren Entwicklung hin zur westlichen Ernährung, die reich an Salz, Zucker, Fetten und verarbeiteten Produkten ist, sollten Forschung und Agrarpolitik den vergessenen Esspflanzen mehr Aufmerksamkeit widmen. Sie können langfristig dazu beitragen, die hohen Folgekosten der nicht übertragbaren ernährungsbedingten Krankheiten wie Diabetes, Fettsucht, Herzkrankheiten und bestimmte Formen von Krebs zu verringern.
Silke Stöber ist Agrarökonomin und arbeitet als Senior-Wissenschaftlerin am SLE. Ihre Themen sind Ernährungssicherung, Agrarökologie und Anpassung an den Klimawandel. Im Rahmen des im Artikel erwähnten Forschungsverbundprojekts HORTINLEA der HU hat sie zwei Teilprojekte geleitet.
silke.stoeber@agrar.hu-berlin.de