Mittelmeerstaaten
Die Sicht der Libyer auf Europa
Früher bewunderten die meisten Libyer das, was auf der anderen Seite des Mittelmeers geschah. Sie sahen die EU-Länder als Modell für wohlhabende und gut organisierte Gesellschaften, die den Menschen ein gutes Leben ermöglichen. Im 20. Jahrhundert studierten tausende Libyer an europäischen Universitäten, das Ansehen der EU stieg bei ihren Landsleuten weiter.
Heute halten viele Libyer wenig von der EU. In ihren Augen sind die EU-Mitgliedsländer – besonders Britannien, Frankreich und Italien – für das aktuelle Sicherheitschaos verantwortlich. Eine von europäischen Regierungen geleitete NATO-Intervention machte 2011 den Sturz des Langzeitdiktators Muammar al-Gaddafi erst möglich (siehe Kasten). Aber mit der Sicherheit ist es seither vorbei. Seit fast zehn Jahren kämpfen konkurrierende Milizen um libysches Territorium. Konflikte können immer und überall unerwartet ausbrechen.
Einige bewaffnete Gruppen sind zudem in den Menschenschmuggel involviert. Viele Afrikaner aus dem südlichen Afrika oder den arabischen Ländern des Kontinents wollen nach Europa. Seit Libyen Transitland ist, drängen auch immer mehr Libyer nach Europa.
Große Hoffnungen
Überall in Nordafrika interessieren sich die Menschen für Europa. Seit langem möchte die Mehrheit in einer demokratischen Gesellschaft gut leben – was in einer Diktatur natürlich nicht frei geäußert werden darf. Die Aufstände des Arabischen Frühlings offenbarten, wonach sich die unterdrückten Menschen sehnen.
Libyen, Ägypten und Tunesien konnten sich von autokratischen Führern befreien. Es passt ins Bild, dass in diesem Jahr autoritäre Regime in Algerien und im Sudan vom Volk gestürzt wurden. Die großen Rückschritte in Ägypten, das Sicherheitschaos in Libyen und der brutale Bürgerkrieg in Syrien dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Menschen sich nach Freiheit sehnen. Wir wissen, dass die EU seit langem demokratische Grundsätze predigt. Jetzt sind wir enttäuscht darüber, dass sie sich nicht genügend für die Demokratie einsetzt.
Gaddafi, der von 1969 bis 2011 in Libyen autokratisch herrschte, tat alles, um ein Gefühl der nationalen Einheit zu schaffen und Feindseligkeit gegenüber dem Westen zu fördern. Aber das schaffte er nicht. Mohamed Omar, ein pensionierter Ingenieur, sagt: „Gaddafi vermittelte einen falschen Eindruck. Für die Libyer war die EU kein Feind.“
Omar studierte als junger Mann in Deutschland und war vom „gut organisierten und fortschrittlichen Lebensstil begeistert“. Damals hoffte er, Libyen wäre eines Tages auch so. Das Land habe viel Zeit verloren, meint er und hofft auf eine engere Verbindung zur EU. Für die aktuelle Lage macht er „Gaddafis dumme Ideen und die Verhinderung von Bürgeraufbegehren“ verantwortlich.
Viele andere sehen zumindest eine Teilschuld bei den europäischen Regierungen: Statt Bodentruppen zu stationieren, haben sie ein von Gewalt zerrüttetes Land seinem Schicksal überlassen.
Migration verschärft Probleme
Die Flüchtlingskrise verschärft die Probleme. Immer mehr Libyer wollen nach Europa, aber ohne Visa gibt es keine sicheren Wege. Libyer neigen dazu, die europäische Berichterstattung als verzerrt zu betrachten, weil Libyer oft als Verbrecher dargestellt werden statt als von Gewalt bedrohte Menschen. Europäische Staatschefs wollen, dass die Flüchtlinge in Libyen bleiben. Werden diese hier dann misshandelt, geben sie uns die Schuld. Begreifen die Europäer nicht, dass die libysche Staatlichkeit extrem fragil ist? Das allein verursacht großes Leid.
Die sechsjährige Sajida leidet unter einer seltenen Bluterkrankung. Als sie eine in Libyen nicht erhältliche Knochenmarktransplantation brauchte, wollte ihr Vater mit ihr nach Europa. „Ich habe mehrfach ein Visum beantragt, es wurde aber immer abgelehnt“, erzählt er. „Sie hatten wohl Angst, ich könnte die Kosten für die Behandlung nicht tragen.“
2016 beschloss er, mit seiner Tochter in einem kleinen Schlauchboot nach Europa zu fahren. Nach 33 Stunden auf dem Meer griff sie ein Schiff der italienischen Küstenwache auf und brachte sie nach Sizilien, wo das Mädchen die lebensrettende Behandlung erhielt.
Andere haben weniger Glück und überleben es nicht, das Mittelmeer in schäbigen Booten zu überqueren. Dennoch wollen immer mehr Libyer weg von Gewalt und Gesetzlosigkeit. Sie hoffen auf Asyl in Europa.
Das Paradoxe ist, dass Libyen in der europäischen Geschichte als Tor zu Afrika gesehen wurde. Nun sehen die Afrikaner es als Tor zu Europa. Auch wenn die EU und das Gaddafi-Regime Gegner waren, arbeiteten sie doch in einigen Bereichen zusammen, etwa bei der Überwachung und Einschränkung der illegalen Einwanderung.
Im Chaos nach Gaddafis Sturz war keine politische Macht in der Lage, zum effektiven Regierungspartner für die EU zu werden. Libyen ist heute ein Transitland mit durchlässigen Grenzen und ineffektiven Behörden.
Der libysche, auf Migration spezialisierte Journalist Zuhier Abusrewil sagt, „Libyer können Afrikaner verstehen, die für ein besseres Leben nach Europa fliehen wollen.“ Deshalb teilen sie die Sorgen der Europäer nicht.
Die Migration hat große Nachteile, findet der Journalist: „Libyen ist leidtragend, weil es weitgehend auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen ist.“ Jetzt wollen Ausländer nicht mehr in Libyen bleiben. Die Löhne sind gestiegen, es mangelt an Arbeitskräften.
Das größte Problem aber ist das organisierte Verbrechen. Menschenschmuggler erwirtschaften hunderte Millionen von Euro. Lokale Banden haben sich mit bewaffneten libyschen Milizen und Mafia-Cliquen aus Italien und Malta zusammengetan.
Das nach der NATO-Intervention entstandene Machtvakuum hat die Sicherheit untergraben und eine lukrative illegale Branche hervorgebracht. Mit den EU-Standards, auf die die Menschen nach Gaddafis Sturz gehofft hatten, hat der libysche Alltag wenig zu tun. Nun definiert diese Ungleichheit die Sicht der Libyer auf Europa.
Moutaz Ali ist Journalist und lebt in Tripolis, Libyen.
ali.moutaz77@gmail.com
Walid Ali ist sein Bruder und Forscher. Er hat einen Master in Internationalen Beziehungen.