Lebensperspektiven

Viele Nigerianer wittern größere Chancen im Ausland

Das große Thema Nigerias ist wachsende Armut. Viele Angehörige der Mittelschicht wollen auswandern.
Sägewerk in einem Slum von Lagos. Sunday Alamba/picture-alliance/ASSOCIATED PRESS Sägewerk in einem Slum von Lagos.

Extreme Armut bedeutet, dass Menschen unmittelbare Bedürfnisse nicht befriedigen können. Subsahara-Afrika ist die am stärksten betroffene Weltregion. 2015 lebte laut Weltbank die Hälfte der extrem Armen weltweit in fünf Ländern. In absteigender Reihenfolge waren das Indien, Nigeria, die DR Kongo, Äthiopien und Bangladesch. Tendenziell gingen die Armutsquoten in Südasien aber schnell zurück, während sie in Afrika weitgehend stabil blieben. Zeitweilig hatte Nigeria sogar mehr extrem Arme als Indien, was sich wegen der Covid-19-Katastrophe dort aber kürzlich wieder umkehrte.

Der Weltbank-Definition zufolge haben arme Menschen pro Tag und Kopf eine Kaufkraft von weniger als 1,90 Dollar. 2019 traf das auf 83 Millionen Nigerianer oder 40 Prozent der Bevölkerung zu, wie die nationale Statistikbehörde in ihrer Veröffentlichung „Poverty and Inequality in Nigeria“ berichtete. Der Anteil der Armen war früher deutlich kleiner. Als das Land 1960 unabhängig wurde, ging es laut den damals gültigen, vergleichbaren Kriterien nur um 15 Prozent der Bevölkerung.

Von 1999 bis 2011 waren Nigerias Öl- und Gasexporte laut Weltbank 300 Milliarden Dollar wert. Die Bevölkerung wächst jedoch schnell und wird sich voraussichtlich bis Ende 2050 von heute 211 Millionen auf 401 Millionen fast verdoppeln. Massen fühlen sich ausgegrenzt und sind wütend. Ihre Zahl wird immer größer.

Ein Staatschef nach dem anderen startete Armutsbekämpfungsprogramme. Die Ergebnisse blieben mager. Das galt gleichermaßen für:

  • das Poverty Alleviation Programme des Diktators Sani Abacha von 1996,
  • das National Poverty Eradication Programme seines gewählten Nachfolgers Olusegun Obasanjo ein paar Jahre später oder auch für
  • die Transformation Agenda von Goodluck Jonathan.

Im Februar 2020 berief der heutige Präsident Muhammadu Buhari den National Council on Poverty Reduction. Ergebnisse lassen sich noch nicht bewerten. Die meisten Menschen halten staatliche Akteure jedoch für unseriös, korrupt und unverantwortlich. Gewaltkonflikte verschärfen in verschiedenen Regionen die Probleme.

Nigeria ist ein paradoxes Land. In den ersten zehn Jahren dieses Millenniums wuchs die Wirtschaft jährlich um sieben Prozent. Dennoch stieg von 2004 bis 2010 die Zahl der Armen von 69 Millionen auf 110 Millionen. Andererseits wuchs die Zahl der Milliardäre um 44 Prozent. Oxfam zufolge hatten die fünf reichsten Nigerianer 2016 zusammen ein Gesamtvermögen von 30 Milliarden Dollar – und 24 Milliarden Dollar hätten gereicht, um die extreme Armut im Land zu beenden.

Buharis erklärte Absicht ist, bis 2030 mindestens 100 Millionen Nigerianer aus der Armut zu befreien. Allerdings hat die Corona-Pandemie die zweite Rezession in nur vier Jahren ausgelöst. Die Wirtschaftsagentur Bloomberg hat berichtet, die Volkswirtschaft sei 2020 um 1,9 Prozent geschrumpft, und das Wachstum halte seit 2015 nicht mehr mit der Bevölkerungsentwicklung mit. Das Pro-Kopf-Einkommen sinkt also.

In der Hoffnung auf größere Chancen ziehen viele Arme vom Land in die Städte. Massenhaft erkennen Nigerianer auch im Ausland bessere Lebensperspektiven – was besonders für die Mittelschicht gilt. Eine Umfrage von Afrobarometer ergab 2017, dass ein Drittel der Bevölkerung Auswanderung in Erwägung gezogen hatte, um Arbeit zu finden (wie 35 Prozent sagten), der Not zu entkommen (31 Prozent) oder bessere Geschäftschancen zu nutzen (10 Prozent).

Immer mehr Menschen sind so verzweifelt, dass sie auch illegal emigrieren. Laut US-Regierung hat sich die Zahl der Nigerianer, die mit abgelaufenem Visum in den Staaten bleiben, von 2015 bis 2020 vervierfacht. Statt für vier Prozent der nigerianischen Studenten 2015 hätte das voriges Jahr für 22 Prozent gegolten. Die USA handhaben die Visumsvergabe nun restriktiver.

Die EU hat Nigeria gewarnt, sie werde das auch tun, wenn das Land nicht bei der Repatriierung von aus Europa ausgewiesenen Landsleuten kooperiere. 2019 gab es mehr Asylanträge von Nigerianern (10 783) als von Indern (10 354). Dabei stellten Nigerianer erstaunliche 37 Prozent aller afrikanischen Asylanträge in der EU.


Ben Ezeamalu arbeitet als Journalist für die Premium Times in Lagos.
ben.ezeamalu@gmail.com
Twitter: @callmebenfigo