Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Technologie

Wohlstand auf breiter Basis schaffen

Digitale Geräte und Anwendungen verändern die Weltwirtschaft. Vor allem politische Entscheidungsträger und Entwicklungsagenturen müssen verstehen, was das für Entwicklungsländer bedeutet. Benjamin Kumpf, Innovationsexperte beim UNDP, sprach mit E+Z/D+C über Vor- und Nachteile der jüngsten Technologietrends.
Selbstfahrende Autos könnten Staus in Megastädten wie Nairobi mindern. Sayyid Azim/picture-alliance/AP Photo Selbstfahrende Autos könnten Staus in Megastädten wie Nairobi mindern.

Roboter sollen menschliche Arbeit ersetzen und werden immer besser. Überholen sich etablierte Entwicklungsmuster – arme Länder industrialisieren sich auf Basis billiger Arbeitskräfte und erreichen dann allmählich den Weltmarkt – durch den Fortschritt der Informationstechnologie?
Ich würde sagen, einige Roboter sollen menschliche Arbeit ersetzen, andere sollen sie ergänzen oder etwas ganz Neues tun. Prognosen zu Jobverlusten in Folge der Automatisierung in Entwicklungsländern liegen bei bis zu 55 Prozent in Usbekistan und 85 Prozent in Äthiopien. In den USA investieren gerade einige Unternehmen in die Robotik, um die Textilindustrie zurückzuerobern. Man kann das Ganze auf zweierlei Weise betrachten: Entweder man beklagt, dass Entwicklung nicht mehr so verläuft, wie man es kennt. Oder man sucht nach besseren Ansätzen. Niedriglohnarbeit ist offensichtlich ein Wettbewerbsvorteil der Entwicklungsländer, der einen Produktivitätszuwachs verspricht und geringqualifizierte Arbeitskräfte beschäftigt. Das wird sich wohl ändern. Neben dem Streben nach ökologischer Nachhaltigkeit, nach weniger Ungleichheit und nach gerechten Löhnen müssen Entwicklungsländer auch Möglichkeiten finden, die nicht auf Niedriglohnarbeit bauen. Das ist eine Herkulesaufgabe. Die meisten politischen Empfehlungen setzen auf Kompetenz und Vernetzung, also auf Bildung und Handel, basierend auf Wettbewerbsvorteilen in Marktnischen.

Kann digitale Technologie dazu beitragen?
Ja, man kann Entwicklungsverläufe digital überspringen und so neu definieren. Das geht aber nur, wenn zugleich in grundlegende Infrastruktur und Bildung, Verbesserung des Geschäftsumfelds, wirtschaftliche Umverteilung und soziale Sicherheit investiert wird. Die Menschen brauchen eine tertiäre Bildung, um mit aktuellen IT-Anwendungen mithalten zu können, und die ist in Entwicklungsländern noch selten. Es muss daher auf verschiedenen Ebenen gehandelt werden: Wir brauchen einen öffentlichen Diskurs über Umverteilung und darüber, wie eine Gesellschaft Wertschöpfung definiert.

So oder so: Müssen wir uns darauf einstellen, dass menschliche Arbeit überflüssig wird?
Es kommen zweifellos große Probleme auf uns zu. Politiker sollten genau überlegen, was die Zukunft bringen könnte. Die Geschichte gestattet ein bisschen Optimismus: Seit der Industriellen Revolution in Britannien im 18. Jahrhundert befürchten die Menschen, dass Maschinen Arbeiter ersetzen. Tatsächlich kann der technische Fortschritt den unteren und mittleren Klassen schaden. Andererseits haben neue Technologien bisher mehr Jobs geschaffen als zerstört. Die Art der Arbeit ändert sich – teils fundamental. Wir müssen verstehen, ob sich das nur zeitweilig negativ auf die Arbeit auswirkt und man dem durch Umschulungen begegnen kann oder ob es Mechanismen sind, die zu einer sehr weitreichenden Automatisierung führen. Vorhersagen zufolge wird es mehr soziale Ungleichheit und weniger Chancen für Geringqualifizierte geben. Regierungen und Entwicklungsorganisationen kommt die wichtige Aufgabe zu, die passenden Narrative zu entwickeln. Es ist sinnvoll, gemeinsam zu überdenken, welche Art von Arbeit automatisiert werden soll und wie unterschiedliche Arbeitsformen entlohnt werden. Manuelle Arbeit muss geschätzt und angemessen belohnt werden. Es bedarf innovativer politischer Maßnahmen, und Konzepte wie das universelle Grundeinkommen werden wichtiger. „Niemanden abhängen“ ist schließlich ein Leitprinzip der Sustainable Development Goals.

Eröffnen digitale Technologien höher­ gebildeten Menschen in Entwicklungsländern neue Chancen?
Ja, kreative Arbeit dezentralisiert sich weltweit. Es gibt Technologiezentren in Bangalore, Nairobi und anderswo. Weltweit tun sich Chancen für digitale Arbeiter auf. Außerdem machen neue Technologien Umweltschutz möglich. Satellitenbilder und maschinelles Lernen etwa helfen zu verstehen, welche Auswirkungen die aktuelle Politik auf die Biodiversität hat, und Crowdfunding macht Investitionen in die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien erschwinglich.

Lassen Sie uns über Vor- und Nachteile wichtiger technologischer Trends sprechen: Wenn Automatisierung zu Arbeitslosigkeit führen kann – welche Vorteile gäbe es dann für Entwicklungsländer?
Zunächst einmal möchte ich die nach wie vor bestehenden Hürden im Zugang zu Technologien betonen. Noch immer hat mehr als eine Milliarde Menschen keinen Strom, und 3 Milliarden verfügen über keine sichere und saubere Technologie zum Kochen. Analphabetismus ist vielerorts nach wie vor ein großes Problem, und weniger als die Hälfte aller Menschen benutzt das Internet. Dennoch sind die möglichen Vorteile aufkommender Technologien beachtlich. Das Mobiltelefon etwa war und ist zentral für die finanzielle Inklusion. Ein aktuelles Beispiel für technologiebedingten Fortschritt ist, dass Arzneimittel und Impfstoffe mit Drohnen in abgelegene Gebiete gebracht werden können. Selbstfahrende Autos könnten Staus und Umweltverschmutzung in Megastädten wie Neu-Delhi, Nairobi oder Los Angeles massiv mindern – und das käme auch der wirtschaftlichen Produktivität zugute.

Neben der Automatisierung sehe ich zwei weitere entscheidende Trends: Big Data und Künstliche Intelligenz. Ist mir außerdem etwas Wichtiges entgangen?
Nun, es gibt viele bedeutende Trends, und sie hängen in der Regel zusammen. Ich denke, die politischen Entscheidungsträger sollten sich auf die von Ihnen erwähnten Trends sowie auf Blockchain und Bioethik konzentrieren. Menschen können die Zukunft schlecht vorhersagen, vor allem wenn sie bedrohlich erscheint. Es ist wichtig, sich auf unerwartete Szenarien einzustellen.

Nun zu Big Data: Haben Sie Beispiele für echte Vorteile?
Ja. Aber Big Data allein reicht meist nicht. Die Daten von Verbrauchern, die Mobiltelefone, soziale Medien und Suchmaschinen nutzen, müssen durch Haushaltsumfragen und andere Datenerhebungen ergänzt werden. Sonst wird das Bild verzerrt. Man weiß, dass mehr Männer digitale Geräte nutzen als Frauen – die Datenspuren sagen also mehr über die Präferenzen von Männern aus, als über die von Frauen. Wir können mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden umgehen, aber dafür muss Big Data durch Daten aus konventionell generierten Statistiken und zusätzlichen qualitativen Untersuchungen ergänzt werden. Bei richtiger Nutzung liefern Big-Data-Analysen relevante Einblicke in das Leben von Menschen. In den letzten Jahren hat sich das UNDP, oft gemeinsam mit UN Global Pulse und nationalen Regierungen, mit diesen Themen befasst und kam zu interessanten Ergebnissen:

  • Das UNDP arbeitet im Sudan mit Partnern, auch mit deutschen akademischen Einrichtungen, an Echtzeit-Erkenntnissen zu Armut. Big Data von Sattelitenaufnahmen nächtlicher Beleuchtung, Daten von Mobiltelefonen und Daten zum Stromverbrauch ergänzen die offizielle Armutsstatistik und ergeben ein reales Bild von Armut – und das in Echtzeit. Politische Entscheidungsträger gewinnen so ein umfassendes Bild davon, wo arme Menschen leben. Dieser Ansatz hat Datensammlung deutlich effizienter gemacht.
  • In Indonesien hilft Big Data bei der Hochwasservorsorge und beim Umgang mit Überschwemmungen. Twitter ist in Indonesien sehr beliebt, daher nutzt die Analyse von Unterhaltungen auf Twitter, um Erkenntnisse zu gewinnen und Partnern aus Zivilgesellschaft und Regierung schnelles Handeln zu ermöglichen. So kann Berichten nachgegangen werden, und man kann Flutopfer in Echtzeit erreichen.

Und was sind Risiken von Big Data?
Es gibt große Probleme mit der Privatsphäre. Analysieren Sie etwa die Browsing-Präferenzen einer Person, gewinnen Sie Einsichten über deren sexuelle Orientierung, politische Ansichten oder Gesundheitszustand – alles Informationen, die missbraucht werden können. Ein Großteil der Daten von Verbrauchern liegt bei einigen privaten Firmen wie Online-Händlern, Telekommunikationsunternehmen, Social-Media-Plattformen oder Suchmaschinen. Wenn Regierungen an diese herankommen, können sie die Opposition unterdrücken und zivilen Ungehorsam blockieren. Mit solchen Folgen werden wir rechnen müssen, wenn wir keine Datenprotokolle und Rechenschaftssysteme einrichten. Wir müssen also dafür sorgen, dass der Einzelne emanzipiert mit seinen eigenen Daten umgeht und sie schützt.

Welches Potenzial sehen Sie in Künstlicher Intelligenz (KI)?
Da gibt es einiges an Potenzial. KI kann beispielsweise den Horizont politischer Entscheidungsträger erweitern. Die algorithmische Überprüfung von Big Data kann ihnen buchstäblich die Augen öffnen, etwa was die aktuelle Entwaldung angeht. In Mittelamerika kann KI die Folgen des Ananasanbaus für die Biodiversität aufzeigen. Oft realisieren Verantwortliche nicht, wie sich politische Entscheidungen auf das größere System auswirken. Ein weiterer Bereich, in dem KI helfen könnte, ist die Strafjustiz. Justizsysteme sind in vielen Ländern überlastet, die Menschen verlieren das Vertrauen darin. Algorithmen können helfen, die Justiz besser zu verwalten und Verfahren zu beschleunigen.

Aber kann KI Probleme nicht auch verschärfen? Soviel ich weiß, basiert KI auf menschlichen Verhaltensmustern, wobei Computerprogramme so konzipiert sind, dass sie das Verhalten imitieren, das für den jeweiligen Kontext maßgebliche Menschen am häufigsten zeigen. Ist das Rechtssystem eines Landes gegenüber einer Minderheit voreingenommen, spiegeln die Entscheidungen, die dafür maßgebliche Personen treffen, diese Voreingenommenheit wider. Wird sie dann nicht durch KI verstärkt?
Ja, das kam schon vor. In einigen Ländern waren algorithmische Entscheidungen tatsächlich voreingenommen gegenüber Minderheiten. Da waren die Daten, mit denen die Algorithmen trainiert wurden, verzerrt. Es wäre aber auch möglich, unverzerrte Programme zu erstellen. Das ist ein Paradebeispiel für den technischen Fortschritt, der zugleich Chancen wie Risiken birgt. Leistung kann nicht nur repliziert, sondern auch verbessert werden. Dazu müssen die Datensätze, aus denen sich die Algorithmen ableiten, transparent kontrolliert werden. Und die Programme sollten von den unterschiedlichsten Menschen geschrieben werden. Das wäre gegeben, wenn mehr junge Frauen und Angehörige von Minderheiten MINT-Fächer – Wissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen und Mathematik – studieren würden. Regierungen sollten sie fördern. Zugleich müssen auch Privat­unternehmen sicherstellen, dass ihre Mitarbeiter ein buntes Spektrum abbilden. Und wir brauchen multisektorale Plattformen, auf denen Fortschritte, Grundsätze und Rechenschaftssysteme von KI erörtert werden.

Ich habe den Verdacht, dass Künstliche Intelligenz nicht wirklich intelligent ist. Wenn sie letztlich darauf zielt, das durchschnittliche Verhalten maßgeblicher Menschen zu replizieren, wird das Ergebnis per definitionem mittelmäßig sein. Mittelmäßig ist natürlich immer noch besser als schlecht, aber doch schlechter als exzellent. Wir sind gefordert, „über den Tellerrand zu schauen“, aber kann KI das?

Bisher sind die Standardanwendungen der KI nicht dafür gedacht, aber die Technik schreitet voran. Inzwischen gibt es kreative KI: Programme schreiben Gedichte oder komponieren Musik. Wir sprechen von der Entstehung künstlicher Superintelligenz – KI, die kreative Entscheidungen besser treffen kann als der Mensch, allgemein menschliche kognitive Fähigkeiten übertrifft und sogar schlussfolgern kann. Vor dieser Art von KI warnen uns Technologie-Enthusiasten wie Tesla-Gründer Elon Musk. Eines meiner Lieblingszitate stammt von dem italienischen Politiker und Philosoph Antonio Gramsci: „Ich bin vom Intellekt her Pessimist und vom Willen her Optimist.“ Es scheint ein gutes Paradigma zu sein, die technologische Zukunft auf einen Pfad zu lenken, der der menschlichen Erfüllung und Freiheit dient.


Benjamin Kumpf ist Leiter der UNDP Innovation Facility in New York.
https://twitter.com/bkumpf