Entwicklung und
Zusammenarbeit

Elasticsearch Mini

Elasticsearch Mini

UNDP

„Governance hat zentrale Bedeutung“

In den vergangenen Jahrzehnten haben die UN zwei wichtige Begriffe geprägt: „menschliche Entwicklung“ und „nachhaltige Entwicklung“. Sie haben sich nicht nur durchgesetzt, sondern bekräftigen einander. Weshalb das so ist, erläutert der Leiter des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP), Achim Steiner.
Eine Schülerin im ländlichen Burkina Faso bei den Hausaufgaben. Kopp/picture-alliance/imageBROKER Eine Schülerin im ländlichen Burkina Faso bei den Hausaufgaben.

Als das UNDP 1990 den Human Development Index (HDI) einführte, war die Leitidee, allen Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Erinnere ich mich richtig?
Ja, aber das war nicht alles. Der HDI begründete ein breiter angelegtes Konzept zur Förderung menschlichen Wohlergehens, den sogenannten Human Development Approach. Es ging  darum, den Wohlstand im menschlichen Leben weiter zu fassen als nur ökonomisch. Der Index war eine Antwort auf das damals vorherrschende Paradigma, bei dem einflussreiche  Institutionen Entwicklung mit Wirtschaftswachstum und steigenden Pro-Kopf-Einkommen gleichsetzten. Das war die Ära der Strukturanpassungen und des Washington Consensus, die komplett auf Marktdynamiken abzielten. Darüber hinaus fand menschliches Wohlbefinden wenig Beachtung. Zwei prominente Ökonomen, Amartya Sen und Mahbub ul Haq, entwarfen dann im Auftrag des UNDP den HDI und erfassten dabei bislang vernachlässigte Aspekte – vor allem Bildung und Gesundheit. Beide sind sehr wichtig, also kommt es darauf an, die Fortschritte zu messen, die ein Land in diesen Bereichen macht. Das hilft, Lücken zu erkennen – und zu schließen, damit mehr Menschen ihr Potenzial voll ausschöpfen können.

Hat der HDI das Entwicklungsparadigma verändert?
Ja, der HDI hat sich in vielfacher Hinsicht durchgesetzt. Zum Beispiel hat die Weltbank 2018 einen eigenen Index für Humankapital eingeführt, um Fortschritte in einigen dieser Bereiche zu messen. Die Debatte geht ständig weiter, und wir arbeiten an weiteren Verbesserungen des Konzepts. Wir konzentrieren uns jetzt zunehmend auf Ungleichheit. Der letztjährige Bericht über die menschliche Entwicklung zeigte, dass relativ gleiche Gesellschaften oft besser abschneiden als sehr ungleiche Gesellschaften – und das gilt sogar bei niedrigeren Pro-Kopf-Einkommen. Der diesjährige Bericht wird erstmals den Zusammenhang von Ungleichheit und Umweltschäden behandeln. Wenn wir verhindern wollen, dass Umweltverschmutzung und die Zerstörung von Ökosystemen armen Menschen deutlich mehr schaden als reichen Menschen, müssen wir erst einmal verstehen, warum das so ist.

Sind menschliche Entwicklung und nachhaltige Entwicklung letztlich dasselbe?
Die Konzepte überschneiden sich, aber der Hintergrund ist unterschiedlich. Menschliche Entwicklung fokussiert mehr auf menschliche Bedürfnisse und wendet sich gegen das rein ökonomische Verständnis von Entwicklung. Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung hatte eine andere Grundlage, als die UN es nach jahrelanger Debatte beim Erdgipfel in Rio 1992 beschlossen. Es geht darum, dass künftige Generationen dieselben Chancen haben müssen wie wir heute. Daraus ergibt sich unter anderem der Grundsatz, dass Wirtschaftstätigkeit heute die natürliche Umwelt nicht schädigen oder zerstören darf. Tatsächlich beeinträchtigen aber die globale Erwärmung sowie der Verlust von Ökosystemen und der biologischen Vielfalt die Chancen künftiger Generationen erheblich. Der Erdgipfel betonte, dass reiche Weltregionen nicht auf Kosten der benachteiligten prosperieren dürfen. Jeder Mensch verdient gleiche Chancen. Die drei Säulen der Nachhaltigkeit bleiben auf Dauer wichtig: soziale Inklusion, stabile Umwelt und eine langfristig funktionierende Wirtschaft.

Das Motto der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) ist „Niemanden zurücklassen“. Lässt sich dieses Prinzip sinnvollerweise bis zum Erdgipfel zurückverfolgen?
Ja, und sogar noch weiter zurück auf frühere internationale Debatten. Die UN waren, was diese Dinge angeht, der Vordenker. Wichtig waren die Brundtland-Kommission in den späten 1980ern und davor die Brandt-Kommission in den frühen 1980ern.  

Inwieweit ist bessere Amtsführung – auf nationaler wie globaler Ebene – für die Erreichung der SDGs wichtig?
Governance hat zentrale Bedeutung, denn sie bestimmt, wie wir miteinander umgehen. Es geht um Fairness, Rechtsstaatlichkeit, Werte et cetera. Die Rechte des Individuums hängen davon, aber auch die Rechte von Minderheiten und anderen bedrohten Gruppen. Aber nicht zuletzt wegen weltanschaulicher Differenzen lässt sich die Qualität von Governance nur schwer messen. Da jedoch die SDGs einen multilateralen Konsens widerspiegeln, lässt sich mit ihnen als Messlatte tatsächlich in gewissem Grad prüfen, wie effektiv die Regierungssysteme verschiedener Länder sind. Dabei kommt es neben staatlichen auch noch auf andere Akteure an, die auf Governance Einfluss haben. Dazu gehören der Privatsektor, die Zivilgesellschaft, die Wissenschaft und so weiter. Governance ist mehr als bloßes Regierungshandeln, und das zeigt sich besonders auf der globalen Ebene. Wir haben zwar keine „Weltregierung“, aber wir haben Ordnungssysteme, die viele wichtige Dinge regeln - von Telekommunikation und Post über Handel bis hin zu Sicherheit auf See. Die Covid-19-Pandemie zeigt nun erneut, wie wichtig Global Governance ist. Wenn wir nicht zusammenarbeiten, um das Virus überall einzudämmen, besteht die Gefahr, dass es irgendwo wieder auftaucht und sich von dort aus schnell wieder ausbreitet. Ähnlich wird ein Konjunkturabschwung in einem Teil der Welt die Wirtschaft in anderen Regionen beeinträchtigen – das ist wie ein Dominoeffekt. Wenn sich die Weltwirtschaft erholen soll, brauchen wir Konjunkturprogramme für alle Länder – nicht nur für die wohlhabenden.

Ist das Global-Governance-System dieser Aufgabe gewachsen?
Lassen Sie mich zunächst betonen, dass es bemerkenswert stark ist und dass seine Institutionen weitgehend im Kalten Krieg, einer Ära immenser Spannungen, entstanden sind. Sie haben sich weiterentwickelt und bewähren sich bei vielen wichtigen Aufgaben. Anderseits hat das multilaterale System auch recht enge Grenzen. Bemerkenswerterweise entspricht der Haushalt des UN-Generalsekretärs gerade mal dem der New Yorker Feuerwehr. Das multilaterale System ist offensichtlich unterfinanziert. Der UN-Sicherheitsrat hätte längst reformiert werden müssen, um die gegenwärtigen weltweiten Machtverhältnisse besser widerzuspiegeln. Zudem wird das Völkerrecht nicht im gebotenen Maß beachtet. Es wäre gut, wenn alle Staaten ihre Selbstverpflichtung zu Global Governance bekräftigen würden.

Viele Regierungen betonen stattdessen ihre Souveränität und geben den Interessen ihrer Länder Vorrang. 
Es ist illusionär, zwischen Global Governance und Souveränität entscheiden zu wollen, denn globale Ordnungssysteme kommen allen Nationen zugute. Dafür muss kein Land seine Souveränität aufgeben. Im Gegenteil, Global Governance entsteht dadurch, dass souveräne Länder sich koordinieren, um weltweite Probleme gemeinsam zu lösen. Bestimmte Ziele lassen sich nun mal nur gemeinsam erreichen. Die großen Herausforderungen unserer Zeit übersteigen die Leistungsfähigkeit des einzelnen Nationalstaats. Kein Land kann die Klimakrise allein bewältigen. Der Welthandel und die globale Finanzarchitektur erfordern ebenfalls Zusammenarbeit. Das gilt auch für die rasche, grenzüberschreitende Ausbreitung von Covid-19. Wenn unsere internationalen Institutionen nicht stark, respektiert und wirkungsvoll sind, trifft uns jede Krise umso härter.   

Ich möchte noch mal zur Anfangsfrage zurückkehren. Das Paradigma, welches Entwicklung mit Wachstum gleichsetzt, scheint mir weiterhin recht stark zu sein. Es prägt sogar die SDGs, weil die entsprechenden UN-Dokumente die Bedeutung von Privatunternehmen und Marktdynamiken betonen. Widerspricht das nicht dem Konzept der menschlichen Entwicklung?
Nein, jedenfalls nicht substanziell. Dass wir uns zwischen wirtschaftlichem Wohlstand und ökologischer Nachhaltigkeit entscheiden müssten, ist nämlich auch ein Irrglaube. Darüber sind sich die Experten heute einig. Volkswirtschaften können und müssen sich weiterentwickeln, ohne die Umwelt zu zerstören. Deutschland ist dafür ein gutes Beispiel: Die Bundesrepublik hat sich in den vergangenen Jahren gut entwickelt, ohne dass die Wirtschaft stark gewachsen wäre. Bei Umweltschutz und sozialer Nachhaltigkeit waren die Ergebnisse gut. Vor dem Covid-19-Abschwung herrschte sogar Vollbeschäftigung, obwohl die Wachstumsrate, verglichen mit früheren Jahrzehnten, enttäuschend war. Je reifer eine Volkswirtschaft ist, desto weniger wichtig ist Wachstum. Leider halten aber viele Politiker weltweit weiter an der alten Wachstumsidee fest. Zu viele Finanzministerien weltweit haben noch immer keine Abteilung oder wenigstens ein Expertenteam für ökologische Nachhaltigkeit. Auch hier gilt: Mehr und nicht weniger Zusammenarbeit ist der beste Weg, um Fortschritte zu erzielen.

Manche Kritiker meinen, der Entwicklungsbegriff sei toxisch, weil ehemalige Kolonialmächte der restlichen Welt ihren Willen aufzwängen. Die Menschheit brauche einen grundlegenden Neustart. Was sagen Sie dazu?
Ich denke, das sind theoretische Überlegungen ohne große Relevanz dafür, wie es mit unserer Welt weitergeht. Im Verlauf der Geschichte haben verschiedene Kulturen immer miteinander interagiert. Es gab ständigen Austausch, und er ging immer mit Chancen und Risiken einher. Es ist unmöglich, zurückzugehen und bei null anzufangen. Wir brauchen Kooperation, um die Herausforderungen zu meistern, vor denen unsere Spezies heute steht – allen voran der Klimawandel.


Achim Steiner leitet das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Das Interview wurde auf Englisch geführt, für die Übersetzung ist die E+Z/D+C-Redaktion verantwortlich.
www.undp.org