Kommentar
Vermeidbare Krise
Das Tempo des Vormarschs der extremistischen Isis (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) mag überraschen. Dass im Irak neue Gewaltkonflikte entstehen, war in den vergangenen Jahren aber kaum zu übersehen. Dabei war der neue Bürgerkrieg eigentlich vermeidbar. Schon 2004 bis 2008 herrschte im Irak Bürgerkrieg. Dschihadistische, aber auch stammesgebundene und säkulare Sunniten lehnten sich gegen die ausländischen Besatzungstruppen und die irakische Übergangsregierung auf.
Auch damals fühlten sich, wie im aktuellen Konflikt, die arabisch-sunnitischen Bevölkerungsteile vom neuen Regime marginalisiert – häufig zu Recht. Dschihadistische und al-Qaida-nahe Gruppen wurden in dieser Auseinandersetzung stark. Ihr Erfolg war allerdings nicht von Dauer: Wegen der Arroganz und Brutalität der Dschihadisten selbst Sunniten gegenüber wandte sich diese gegen die Extremisten. Schließlich schlugen die sunnitischen Stämme zusammen mit den Besatzungstruppen die Dschihadisten, und die politische Gewalt im Irak ging um über 95 Prozent zurück.
2009 bis 2011 bestand eine Chance, den Irak friedlich zu stabilisieren. Vor den Wahlen von 2010 war der größte Teil der sunnitischen Araber bereit, sich wieder in den irakischen Staat zu integrieren. Auch der schiitische Ministerpräsident Nuri al-Maliki, der schon seit 2006 von einem gewählten Parlament und mit US-Zustimmung eingesetzt worden war, gab sich zeitweilig eher national denn konfessionell.
Leider vergab er aber die Chance, die irakische Gesellschaft zu einen und einen legitimen Staat zu schaffen. Stattdessen verfolgte er zum Ausbau seiner Macht eine zusehends konfessionell geprägte Politik, die sunnitische Bevölkerungsgruppen und Führungspersönlichkeiten marginalisierte. Auch viele Kurden und Schiiten brachte er gegen sich auf. So wurde der ohnehin schwach entwickelte neue Staat zur Beute einzelner Interessengruppen und Milizen. Die Folgen waren Vetternwirtschaft, Korruption und Lähmung. Die Neuwahlen in diesem Jahr haben daran nichts geändert. Die Parteien, die Maliki stützen, gewannen zwar die meisten Sitze, aber keine regierungsfähige Mehrheit.
2011 brach in Syrien der Bürgerkrieg aus und eskalierte schnell. Er gab den stark geschwächten regionalen Dschihadisten frischen Wind. Sie fanden nämlich im Nachbarland ein neues Betätigungsfeld sowie Rückzugsgebiete. Von dort drangen sie wieder gewaltsam in den Irak vor, als die Unzufriedenheit der Sunniten so angewachsen war, dass ihre früheren Verbrechen weniger wichtig erschienen als der Widerstand gegen Malikis Regierung.
Die Macht von Isis ist in den vergangenen Wochen und Monaten beachtlich gewachsen. Allerdings liegt das weniger an der eigenen Kraft als am politischen Vakuum, das den westlichen Irak ebenso prägt wie das östliche Syrien. Auf beiden Seiten der Grenze fühlen sich sunnitische Bevölkerungsgruppen von Regimen, die von anderen Konfessionen dominiert werden, bedrängt. Isis und andere aufständische Gruppen erscheinen dabei oft als das kleinere Übel. Dagegen helfen keine Luftangriffe oder Waffenlieferungen. Nötig ist ein belastbarer Gesellschaftsvertrag als Staatsgrundlage. Problematisch ist in diesem Kontext die Rolle der Golfstaaten, die auf verschiedene Weise die Dschihadisten unterstützen, weil sie selbst Hegemonieansprüche hegen. Sie wollen den Einfluss Irans begrenzen, der das Assad-Regime in Syrien unterstützt.
Neu am aktuellen Szenario ist, dass das Vordringen von Isis im Irak zu vorsichtigen Kooperationsversuchen zwischen den USA und Iran führen könnte. Beide haben absolut kein Interesse daran, dass sunnitische Dschihadisten ihren Einfluss in Bagdad oder Kabul ausweiten. Das Problem besteht allerdings darin, dass sowohl in den USA wie in Iran reaktionäre Kräfte hart daran arbeiten, eine Zusammenarbeit zu verhindern.
Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher an der Universität Duisburg-Essen.
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