Entwicklungspolitik
Religion muss Teil der Lösung sein
Für vier von fünf Menschen weltweit hat Religion in ihrem Leben einen hohen Stellenwert. In vielen Partnerländern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit liegt dieser Wert noch höher. Glaube und Religion sind für sie sinnstiftend und bieten ihnen Orientierung für das eigene Handeln. Folglich sollte ungeachtet des individuellen Verhältnisses zu Religion klar sein: Eine werteorientierte Entwicklungspolitik, die den einzelnen Menschen ernst nehmen möchte, muss auch seine Weltanschauung ernst nehmen. In der Konsequenz sollten auch die religiösen, normativen und kulturellen Realitäten in den Partnerländern systematisch Berücksichtigung in der Entwicklungspolitik finden.
Dennoch erfährt Religion in der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik der aktuellen Bundesregierung einen massiven Bedeutungsverlust. Noch vor rund zehn Jahren haben die damaligen Minister Frank-Walter Steinmeier im Auswärtigen Amt sowie Gerd Müller im Bundesentwicklungsministerium die strategisch wichtige Bedeutung von Religion in der internationalen Politik erkannt. Sie haben wichtige Finanzmittel bereitgestellt und internationale Strukturen aufgebaut. Gleichzeitig wurde unter der von Angela Merkel geführten Bundesregierung erstmals das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit geschaffen. Deutschland hat folglich eine internationale Vorreiterrolle eingenommen. Diese herausgehobene Rolle droht nun auf fahrlässige Weise vernachlässigt und sogar aufgegeben zu werden.
Das zeigt sich beispielsweise an der von Deutschland 2016 initiierten Internationalen Partnerschaft für Religion und Entwicklung (PaRD). Das Netzwerk spielt eine entscheidende Rolle, indem es über 150 internationale und religiöse Organisationen sowie mehrere Regierungen zusammenbringt, um Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Es ist für Religionskompetenz bei Vertreter*innen deutscher Außen- und Entwicklungspolitik sowie für einen professionellen Umgang mit Religionen insgesamt von entscheidender Bedeutung. Ungeachtet der erfolgreichen Etablierung und Bilanz steht dieses internationale Netzwerk jedoch womöglich vor dem Ende. Unter Bundesministerin Svenja Schulze wurden die Mittel gekürzt. Noch dramatischer ist, dass sogar die bisherige Förderung Anfang 2025 auszulaufen droht.
Fehlendes Verständnis
Das fehlende Verständnis für die Gestaltungskraft religiöser Akteure offenbart sich auch in der Afrika-Strategie und der Strategie zur feministischen Entwicklungspolitik des Bundesentwicklungsministeriums. Der entscheidende Faktor Religion findet hier jeweils nur am Rande Berücksichtigung.
Eine Entwicklungspolitik, die den religiösen Kontext in unseren Partnerländern aus ideologischen Motiven ignoriert, stattdessen aber eigene Vorstellungen forciert, erscheint vielen als neokoloniale Politik. Nachhaltige Entwicklung und friedliches Zusammenleben lassen sich nur unter Einbezug unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte – auch religiöser – erreichen.
Religionsgemeinschaften besitzen gesellschaftliche Gestaltungskraft und können somit zur Akzeptanz, Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit beitragen. Viele der weltweiten nachhaltigen Entwicklungsziele – UN Sustainable Development Goals (SDGs) – wie die Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen, der Schutz des Klimas sowie die inklusive und gleichberechtigte Bildung lassen sich nur mit und nicht ohne oder sogar gegen religiöse Akteure erreichen.
Insbesondere im sogenannten globalen Süden erfahren religiöse Akteure oftmals deutlich größeres Vertrauen als staatliche Stellen. In Ländern, in denen die staatliche Entwicklungszusammenarbeit aufgrund von Kriegen und Konflikten an ihre Grenzen stößt oder staatliche Strukturen nicht mehr existieren, sind religiöse Akteure weiterhin aktiv und leisten auch in abgelegenen Regionen eine wichtige Arbeit nah an und mit den betroffenen Menschen.
Ambivalente Rolle
In basisnahen Aufklärungskampagnen übernehmen sie eine Schlüsselrolle. Ein Beispiel hierfür ist der Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung in Mali. Dort konnten 2020 gemeinsam mit 100 religiösen Autoritäten in nur einem Jahr 400 Mädchen vor der Genitalverstümmelung bewahrt werden.
Die UN und die Weltbank gehen davon aus, dass religiöse Organisationen in Teilen Afrikas für fast die Hälfte aller Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsdienste verantwortlich sind. In vielen Ländern wären eine Gesundheitsversorgung oder ein Bildungssystem ohne den Beitrag von Religionsgemeinschaften undenkbar.
Zugleich darf die Ambivalenz von Religionen und Religionsgemeinschaften nicht außer Acht gelassen werden. Religiöse Autoritäten können Konflikte entfachen oder lösen. Ebenso können Religionsgemeinschaften Täter und Opfer von Diskriminierung und Verfolgung sein. Religionen werden zuweilen zur Vermeidung von demokratischen Reformen sowie zur Absicherung von Macht missbraucht. Folglich kommt es darauf an, Religionen dort, wo sie Teil des Problems sind, auch zum Teil der Lösung zu machen.
Gerade vor dem Hintergrund der abnehmenden Religiosität in Deutschland und der weiterhin hohen Religiosität weltweit gilt es, die Religionskompetenz im Außen- und Entwicklungsministerium sowie in den Durchführungsorganisationen auszubauen und etablierte einschlägige Netzwerke wie PaRD finanziell nachhaltig abzusichern. Denn ohne Berücksichtigung des religiösen Kontextes ist auch die selbsterklärte feministische Entwicklungspolitik der Bundesregierung zum Scheitern verurteilt.
Angesichts steigender Kirchenaustritte sowie wachsender Kritik an Kirchen mag dies im säkularisierten Europa befremdlich wirken, aber Entwicklungszusammenarbeit ohne religiöse Komponente wird immer nur Stückwerk bleiben. Dies sollte die Bundesregierung unabhängig von einer ideologisch geprägten Brille anerkennen.
Thomas Rachel ist Sprecher für Kirchen und Religionsgemeinschaften der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Deutschen Bundestages und Bundesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU (EAK) sowie Mitglied im Rat der EKD.
thomas.rachel@bundestag.de