Medikamentenversorgung
Apotheker ohne Grenzen vor nie dagewesenen Herausforderungen
Am 24. Februar 2022 wurde die Ukraine von Russland überfallen. Für viele Menschen war es unvorstellbar, dass es jemals wieder Krieg in Europa geben könnte. Nun kamen tausende Ukrainer*innen ums Leben oder wurden verletzt, während Millionen innerhalb des Landes vertrieben wurden oder ins Ausland flüchteten. Allein in Deutschland hatten sich ein halbes Jahr nach Kriegsausbruch rund eine Million Geflüchtete registriert, meist Frauen und Kinder.
Viele gemeinnützige Organisationen begannen innerhalb weniger Tage, die in Deutschland ankommenden Geflüchteten zu versorgen oder Lebensmittel- und Bekleidungslieferungen in die Ukraine zu organisieren. Auch die Hilfsorganisation Apotheker ohne Grenzen (AoG) wurde aktiv.
Normalerweise leistet der Verein mit Sitz in München mithilfe ehrenamtlich tätiger Apotheker*innen bei Bedarf Nothilfe, etwa im Jahr 2019 nach dem Zyklon Idai in Mosambik, und betreut langfristige Projekte wie die Klinikapotheke in der Benediktinerabtei Hanga in Tansania. Die beiden Corona-Jahre 2020 und 2021 hatten den Verein bereits auf eine harte Probe gestellt: Auslandsreisen zu den Partnern waren oft unmöglich, auch wenn es dort sogar noch mehr Hygiene- und Medikamentenbedarf im Zuge der Pandemiebekämpfung gab. Im Jahr 2021 kam im Westen Deutschlands eine regionale Flutkatastrophe hinzu, so dass der Verein nach intensivem Überlegen bereits hier Nothilfe im eigenen Land leistete.
Der Krieg in der Ukraine stellte AoG erneut von Anfang an vor ungekannte Herausforderungen, mit denen viele Fragen einhergingen: Sollte erneut Nothilfe im eigenen Land geleistet werden? Wie ist hier die rechtliche Lage? Wie lassen sich Spenden schnell und sachgerecht einsetzen? Woher bekommt man Personal? Darf man Einsatzkräfte in ein Kriegsgebiet schicken? Wie lange lässt sich Nothilfe aufrechterhalten?
„Nach einem Hilfsaufruf auf Facebook hatten wir dort zehntausende Interaktionen, das Telefon stand nicht mehr still, die E-Mails kamen im Minutentakt an“, sagt Vorstandsmitglied Andreas Portugal, der Ende Februar 2022 als einer der Ersten die Ukrainehilfe von AoG koordinierte. Angefragt werden Verbandsstoffe und Antibiotika für akute Krankheiten und Verletzungen, aber auch Insuline und Herz-Kreislauf-Mittel für chronisch kranke Menschen. „Die Regierung hat es uns eigentlich nicht schwer gemacht, aber wir mussten trotzdem eine gesonderte Genehmigung beantragen, damit wir Arzneimittel exportieren dürfen“, berichtet Portugal.
Jede Anfrage muss den genauen Bedarf an Medikamenten in Qualität und Quantität angeben. Die Empfänger*innen vor Ort müssen fachlich qualifiziert und der Transport in die Ukraine muss gesichert sein. Viele Anfragen kommen direkt von Kliniken aus Kirowograd, Lwiw, Riwne, Mykolajiw, Kiew oder Charkiw. „Der Unterschied zu anderen Projekten ist, dass wir keine eigenen Leute in der Ukraine haben, weil wir grundsätzlich niemanden in ein Kriegsgebiet entsenden“, sagt Portugal.
Schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn schickten AoG jedoch zweiköpfige Fact-Finding-Teams zu mehrtägigen Reisen in angrenzende Länder wie Polen oder Rumänien. Das ist bei Einsätzen üblich, um den genauen Bedarf besser einschätzen und lokale Partner finden zu können – im Fall der Ukraine aber durch den Krieg im Land selbst nicht möglich. Dennoch konnte der Verein auch über die Nachbarländer neue Partner wie die ukrainische Pilotenvereinigung Air Rescue finden. Gleichzeitig greift die Organisation auch in der Ukraine auf langjährige Partner wie German Doctors oder action medeor zurück.
Riskante Lieferungen
Nicht selten haben die Kleintransporter der AoG Lieferungen im Wert von 10 000 Euro geladen und müssen manchmal an der Grenze auch noch umgeladen werden. Mit Fotos, E-Mails und Anrufen wird jede Ankunft bestätigt. Bis zum Ende des Jahres 2022 kamen so mehr als 160 Lieferungen in 40 verschiedenen Städten und Gemeinden in der Ukraine an. Bislang ist keine Lieferung verloren gegangen.
Portugal nennt den anhaltend großen Bedarf als die größte Herausforderung. Doch gleichzeitig betont Jochen Schreeck, der damalige AoG-Vorstandsvorsitzende: „Wir hatten noch nie ein so großes Spendenaufkommen.“ Mit 2 Millionen Euro für die Ukraine kam 2022 allein in den ersten Monaten des Jahres doppelt so viel Geld zusammen, wie der Verein sonst pro Jahr für alle Projekte weltweit ausgibt.
Mittlerweile gehen die Spenden für die Ukraine in Deutschland zurück. Aber Schreeck rechnet damit, dass auch viel Geld für den Wiederaufbau der Versorgungsstrukturen in der Ukraine notwendig sein wird. Vorstandsmitglied Portugal bestätigt: „Diskussionen, ob wir Geld für langfristige Projekte zurückhalten sollten, haben wir geführt, aber wir fanden das unethisch.“ Mindestens bis Jahresende 2023 dürften die bislang eingegangenen Spenden jedenfalls noch für die Lieferungen in die Ukraine ausreichen. Aber auch die langfristigen Projekte in Ländern wie den Philippinen oder Argentinien müssen nun nach Ende der Corona-Beschränkungen erst recht wieder intensiviert werden.
Die Hilfsorganisation musste auch personelle Veränderungen vornehmen. In den ersten Wochen wurde das Projekt noch rund um die Uhr von meist drei Ehrenamtler*innen wie Andreas Portugal betreut, aber seit Mai des Jahres 2022 war dies nicht mehr zu bewältigen. Der Verein hat dann drei bezahlte Stellen mit zeitlicher Befristung geschaffen – ein Novum mit einer erheblichen Vergrößerung der Geschäftsstelle.
Als Gründungsmitglied kennt Schreeck die Organisation sehr gut: „Wir haben 2000 bei null angefangen, weil wir Arzneimittel in einkommensschwachen Ländern besser verteilen wollten.“ Infolge des Einsatzes 2014 nach dem Tsunami in Südostasien hat sich der Verein professionalisiert und schickt nur noch geschulte Fachkräfte in Nothilfeeinsätze. Dafür bietet er jährlich je eine Basis- und Aufbauschulung für Apotheker*innen und andere Fachleute an, die dann Teil eines Personalpools werden.
„Bei der Ukraine-Hilfe stellt sich nun die Frage, wie man unsere Kräfte auch künftig verstärken kann“, sagt Schreeck. Er ist überzeugt, dass sich das Konzept mit einer kleinen Geschäftsstelle und vielen ehrenamtlichen Mitgliedern bewährt hat. „Ehrenamtliche Leistungen kann man jedoch nur schlecht in Zahlen fassen, da sie nicht finanziell entlohnt werden“, bemerkt der Ex-Vereinschef, der inzwischen zum Ehrenmitglied ernannt wurde.
Neben den finanziellen und personellen Veränderungen stellt die Ukraine-Hilfe den Verein aber auch vor inhaltliche und konzeptionelle Herausforderungen. „Bisher haben wir uns darauf konzentriert, pharmazeutisches Wissen über die Wirkung von Medikamenten zu vermitteln, aber in der Ukraine ist nun auch unser logistisches Wissen zum Einkauf und Transport von Arzneimitteln von großer Bedeutung“, sagt Schreeck. Gleichzeitig erhält der Verein durch seine steigende Bekanntheit auch mehr fachliche Anerkennung für seine pharmazeutische Tätigkeit.
Für AoG und andere gemeinnützige Organisationen bleibt der anhaltende Krieg in der Ukraine in jedem Fall eine Herausforderung: Den Menschen muss weiter schnell geholfen werden, um Leid zu lindern. Zudem muss der langfristige Wiederaufbau vorgeplant werden. Und darüber hinaus müssen die Hilfsorganisationen überlegen, welche Lehren sie aus diesen dramatischen Ereignissen ziehen, um sich in Zukunft noch besser konzeptionell, strukturell und personell für solche Einsätze aufzustellen.
Link
Apotheker ohne Grenzen:
www.apotheker-ohne-grenzen.de
Christian Splett ist stellvertretender Pressesprecher der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) in Berlin und ehrenamtliches Vorstandsmitglied von Apotheker ohne Grenzen. Hier äußert er seine eigenen Ansichten.
c.splett@psfde.org