Humanitäre Hilfe
Digitale Plattform erleichtert Nothilfe
Um im Katastrophenfall schnell und effizient Hilfe leisten zu können, sind humanitäre Akteure auf zuverlässige Informationen angewiesen. Das gilt auch für die christliche Hilfsorganisation World Vision, die zahlreiche Länderbüros weltweit unterhält, unter anderem in Deutschland. Wir müssen im Ernstfall wissen: Wer ist wie betroffen? Wem kann wie geholfen werden? Was sind die dringendsten Bedarfe?
Kommt es beispielsweise zu einer Flutkatastrophe, senden wir binnen 72 Stunden ein Team in das betroffene Gebiet, um Soforthilfe zu leisten und eine erste Analyse des Schadens vorzunehmen. Im weiteren Verlauf eruieren wir, welche Hilfe am dringendsten benötigt wird. Zum Beispiel sind oft Wasserleitungen beschädigt und Nahrungsketten oder Märkte funktionieren nicht mehr. Solche Informationen bestimmen etwa, inwiefern wir Wassertrucks organisieren oder Nahrungsmittel verteilen müssen.
Wenn Märkte weiterhin funktionieren, verteilen wir oft Bargeld oder Gutscheine. Betroffene können so selbst entscheiden, was sie am dringendsten benötigen. Das ist würdevoller und oft auch effektiver.
Gemeinsam mit der örtlichen Verwaltung legen wir fest, wer am dringendsten Zuwendungen benötigt, und machen diese Menschen ausfindig. Dies können Alleinerziehende sein, Haushalte mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Behinderung oder Ältere. Wir von World Vision registrieren sie dann als Hilfsempfänger*innen. So stellen wir sicher, dass die Hilfe genau diese Menschen erreicht. Haben sie die Hilfe erhalten, zeichnen sie gegen.
Das ist wichtig, um den Umfang und die Qualität der Maßnahmen zu gewährleisten, aber auch für die sachgerechte Prüfung des Einsatzes von Spenden und staatlichen Fördermitteln. Wir müssen unserer Rechenschaftspflicht nachkommen gegenüber jenen, die uns finanziell unterstützen, und sicherstellen, dass ihre Investition die vorgesehenen Empfänger*innen erreicht. Unter Leitung der Regierung und von UN-Organisationen wird zudem darauf geachtet, Dopplungen bei der Verteilung von Hilfen zu vermeiden.
Eine digitale Lösung
In der Vergangenheit haben wir die meisten dieser Vorgänge mit Papier und Stift erledigt und manuell zusammengeführt. Allerdings kostete die Transkription der Informationen Zeit und war fehleranfällig. Es entstanden Massen von Papierordnern, die langwierig eingescannt werden mussten. Die zuverlässige Sicherung der Dokumente war eine Herausforderung.
World Vision war deshalb eine der ersten humanitären Organisationen, die digitale Hilfsmittel für Registrierung, Verteilung und Berichterstattung in der humanitären Hilfe und speziell in Katastrophenfällen entwickelt hat. Unsere Plattform „Last Mile Mobile Solutions (LMMS)“ ermöglicht offline eine mobile, digitale, nichtphysische Erfassung. So ist eine rechtzeitige und genaue Registrierung gewährleistet. Seit 2008 hat LMMS mehr als 10 Millionen Begünstigte registriert und über 100 Millionen Dollar an Bargeldverteilungen verwaltet. Es wird in mehr als 30 Ländern und von über 20 verschiedenen Organisationen weltweit eingesetzt (siehe Kasten).
Wir speichern nur die nötigsten Daten und geben sie nur weiter, wo dies notwendig ist, um eine Person bei der Verteilung zu identifizieren und die für sie festgesetzte Maßnahme zu verifizieren. Zu diesen Daten gehören Foto, Name, Anzahl der Familienmitglieder, oder – wenn vorhanden – eine Identifikationsnummer.
Nach der Registrierung auf der LMMS-Plattform bekommen die Empfänger*innen eine ID-Karte, mit der sie die ihnen zustehenden Hilfen – etwa Waren oder Bargeld – an den Ausgabestellen von World Vision einlösen können. Die ID-Karte kann, je nach festgelegter Form der Zuwendung, auch genutzt werden, um bei einer Bank Zugriff auf ein Bankkonto zu bekommen. So können die Menschen selbstständig entscheiden, wann sie wie viele Barmittel abholen. Digitale Geldtransfers sind insbesondere dann hilfreich, wenn Menschen aufgrund der Katastrophe fliehen, sich also in Bewegung befinden.
In Kooperation mit staatlichen Institutionen können wir auch in bestehende Rentensysteme einzahlen, so dass Empfänger*innen die Hilfe auf ihr Rentenkonto bekommen. Voraussetzung für diese Art von Hilfe ist, dass Bankensysteme funktionieren und in soziale Sicherungssysteme eingezahlt wird.
LMMS hilft uns sehr dabei, Menschen in schwer zugänglichen Gebieten zu erreichen. Dank Offline-Fähigkeit und geringen Anforderungen an die Konnektivität sind wir nicht von Breitband- oder Wi-Fi-Abdeckung abhängig. Dennoch können wir Transaktionen direkt dort erfassen und verwalten, wo sich die Menschen befinden – auf der „letzten Meile“. Beispielsweise können wir in abgelegenen Orten einen Hotspot nutzen, um Datensätze auf einen Datenträger zu speichern. Sobald wieder Internet vorhanden ist, werden sie dann automatisch ins zentrale System im Landesbüro eingespielt.
Datensouveränität ist wichtig
So wichtig der technische Fortschritt für unsere Arbeit ist, so wichtig ist es auch, dass Menschen nicht zu Daten oder „gläsern“ werden – und damit schutzloser, als sie es ohnehin sind. Vielmehr ist ihre Würde zu achten, und sie sollten mit ihren individuellen Bedarfen betrachtet werden. Die Datenfreigabe sollte daher freiwillig bleiben und nicht in Abhängigkeit zur Hilfe stehen, die eine Person benötigt. Empfänger*innen müssen vor Datenmissbrauch geschützt sein, vor allem an Orten, wo marginalisierte und bedürftige Menschen von ihrer eigenen Regierung verfolgt werden.
World Vision und andere Akteure setzen deshalb verstärkt auf Fortbildungen zur digitalen Kompetenz – sowohl für unsere Teams als auch für die Empfänger*innen. Wir klären darüber auf, weshalb wir Daten sammeln, was wir damit tun, wann wir sie löschen und welche Rechte die Menschen in Bezug auf ihre Daten haben. Hier beziehen wir uns auf UN-Menschenrechtsabkommen, erläutern aber auch nationale Gesetzeslagen.
Empfänger*innen sollten zudem selbst bestimmen können, welche Daten wann an wen weitergegeben werden. Wir nutzen dafür bereits eine App, die auf Smartphones installiert und – wie auch LMMS – in viele Sprachen übersetzt werden kann.
Darüber hinaus initiiert World Vision derzeit ein Projekt, um die dezentralisierte Datennutzung zwischen internationalen Organisationen voranzutreiben. Ziel ist es, internationale Standards für den ethischen, effizienten und systematischen Datenaustausch bei der Verteilung von Bargeld oder Gutscheinen zu entwickeln. Wir tun das im Rahmen des Collaborative Cash Delivery Networks, einer Plattform von 14 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die ihre Bargeldprogramme verbessern möchten. Das Projekt wird gefördert durch Mittel der Europäischen Kommission. Ein Testlauf ist für 2023 in Südsudan innerhalb eines Nothilfeprojektes geplant.
Link
Collaborative Cash Delivery Network:
https://www.collaborativecash.org/
Melanie Assauer ist Senior-Koordinatorin für humanitäre Hilfe bei World Vision Deutschland.
melanie.assauer@wveu.org
Eric Kiruhura ist bei World Vision International für Digitale Systeme zuständig.
eric_kiruhura@wvi.org
Chris Jansen ist Senior Director für Katastrophenmanagement, Advocacy und Finanzhilfen bei World Vision International.
chris_jansen@wvi.org