Transitionsjustiz
Keine einfachen Antworten
Nach einem Bürgerkrieg bezeichnet man Länder oft als „Übergangsgesellschaften“. Die „Transition“ umfasst dabei die Zeit des Wandels von einer alten Rechtsordnung, die durch Krieg, Bürgerkrieg oder politische Krise zerstört wurde, hin zu einem neuen demokratischen System. Ziel muss die friedliche Koexistenz früherer Gegner sein. Eine wichtige Frage ist, ob die Transitionsjustiz „strafende“ Gerechtigkeit üben soll, oder „restaurative“ Gerechtigkeit schaffen muss, welche auf die Rehabilitierung der Opfer und die Stabilisierung des gesellschaftlichen Friedens abzielt.
Wenn Gerechtigkeit durch ein Adjektiv spezifiziert wird, verwässert das den Begriff. Es ist dann keine „echte“ Gerechtigkeit mehr. Aber es gibt Situationen, in denen normale Rechtsprechung unmöglich ist. Die Transitionsrechtsprechung ähnelt in Ländern nach schweren inneren Konflikten dem zweigesichtigen römischen Gott Janus: Sie blickt zurück, um Rechenschaft zu fordern, und gleichzeitig nach vorn, um die Zukunft zu gestalten.
Die internationale Gemeinschaft lehnt Straffreiheit ab und wird keine generelle Amnestie akzeptieren. Diese Haltung klärt aber nicht, inwiefern eine Gesellschaft kompromittiertes Recht als notwendiges Opfer akzeptieren muss, um Frieden zu erlangen. Sie klärt auch nicht, ob der Frieden für den Wiederaufbau lang genug anhalten kann, wenn die Bevölkerung nicht an eine sichere Zukunft glaubt, weil viele Menschen die eingegangenen Kompromisse als ungerecht empfinden. Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob nach internationalem Recht schwere Straftaten geahndet werden müssen oder verziehen werden sollen. Das gilt besonders, wenn die Täter mächtig genug blieben, die soziale Ordnung wieder zu stören.
Vergangenheit versus Zukunft
Übergangsjustiz wirft Fragen auf, die Vergangenheit und Zukunft betreffen. Sie bewegt sich immer in einem umstrittenen politischen Raum. Für den Neuanfang einer Gesellschaft nach einem schweren Gewaltkonflikt stellen sich wichtige Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind:
- - Sollen diejenigen, die grausame Straftaten (wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) begangen haben, politische Straffreiheit genießen oder Straferlass bekommen – oder sollen sie die ganze Härte des Gesetzes spüren?
- - Was ist zu tun, wenn ihr Handeln zum Tatzeitpunkt vom Gesetz gedeckt war oder wenn kein Gesetz ihr Verhalten untersagte?
- - Gibt es ein Minimum an „Standardmoral“, die für jeden gilt?
- - Muss man bei manchen Prinzipien Abstriche machen, um den Frieden zu sichern?
- - Bedeuten solche Kompromisse nicht, dass die Opfer keine Gerechtigkeit bekommen? Und wenn dem so ist, fördert das dann den Frieden oder nährt es die die Kultur der Straflosigkeit, die ursprünglich zur Krise geführt hat?
- - Sollen Gerichte über die Zukunft entmachteter politischer Führungspersonen, die Blut an den Händen haben, entscheiden, oder tun das politische Abkommen?
- - Kann es mehr Schaden als Nutzen anrichten, auf Strafverfolgung zu bestehen?
Die internationale Staatengemeinschaft steht immer wieder vor realpolitischen Fragen – je nachdem, wann Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn die internationale Gemeinschaft auf vergeltende Justiz besteht, kann das künftig andere Warlords davon abhalten, ihre Waffen niederzulegen und eine politische Lösung zu akzeptieren. Liberias Comprehensive Peace Agreement (CPA), das nach 14 Jahren Bürgerkrieg endlich Frieden brachte, wäre beispielsweise niemals unterzeichnet worden, hätten die Beteiligten Strafverfolgung befürchtet. Tatsächlich drohten diese Akteure später wieder mit Gewalt, falls versucht werden sollten, sie vor Gericht zu bringen. Ihrer Ansicht nach bedeutete ihre Teilnahme am Friedensprozess zugleich Amnestie. Sonst hätten sie das CPA vermutlich nicht unterschrieben.
Frieden dank Straffreiheit?
Wenn Warlords mit allen Mitteln versuchen, die Kontrolle über die Staatsgewalt zu behalten, gefährdet das den Friedensprozess. Wenn eine Gesellschaft die Chance hat, statt permanentem Konflikt Frieden zu finden, wäre es unvernünftig, Amnestien völlig abzulehnen und so den Krieg zu verlängern.
Andererseits ist aber auch Straflosigkeit nicht wirklich akzeptabel. Sie würde bedeuten, dass mächtige Menschen auch künftig keine Angst vor Konsequenzen ihres Handels haben müssten. Es gäbe auch keine abschreckende Wirkung auf politische Führungspersonen in anderen Ländern, die vergleichbarer Vergehen schuldig werden. Obendrein würde der Konflikt in der jeweiligen Gesellschaft vermutlich bald wieder auflodern.
Wo „Siegerjustiz“ geübt wird, sind ahndende Formen der Justiz – Strafprozesse etwa – möglich. Das ist der Fall, wenn eine Seite eindeutig verloren hat oder der Frieden durch eine starke externe Macht auferlegt wurde.
Handelt es sich aber um einen arrangierten oder ausgehandelten Frieden, bei dem die alten Führungspersönlichkeiten mächtig bleiben, ist die Lage komplexer. In Liberia beispielsweise wollten die meisten Menschen, dass die Warlords dafür bestraft werden, was sie der Zivilbevölkerung angetan hatten. Es herrschte aber keine Einigkeit darüber, wer zu den bestrafungswürdigen Warlords zählte. Der Warlord einer Gruppe ist oft der Held einer anderen. Viele, die in Verbrechen verstrickt waren, glaubten damals, im Interesse ihres Volkes zu handeln.
Wenn Täter, die schwere Verbrechen begangen haben, nicht verfolgt werden, besteht die Gefahr, dass alte Wunden schnell wieder aufreißen. Die Gesellschaft sitzt dann gewissermaßen auf einem Pulverfass, und eigentlich harmlose Ereignisse können leicht neue soziale Spannungen auslösen. Es hat also durchaus Vorteile, die Täter zu verfolgen und Individuen zur Rechenschaft zu ziehen. Wer andere hat leiden lassen, muss dafür ebenfalls leiden.
Allerdings gibt es oft praktische Schwierigkeiten bei der Strafverfolgung. Bei Massengräueln, wie in Ruanda, Sierra Leone oder Liberia, muss man die Realität akzeptieren, dass es unmöglich ist, alle Beteiligten strafrechtlich zu belangen. In Ruanda wurden informelle Dorfgerichte (Gacaca) eingesetzt, um die Sache zu regeln. Das passte zur Situation vor Ort, entsprach aber nicht unbedingt internationalen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit.
Überforderte Gerichte
Ein weiteres Problem ist, dass bei lang dauernden Konflikten oft die Gerichte selbst zerstört werden. Der Wiederaufbau einer funktionierenden Justiz kann so viel Zeit und Geld erfordern, dass sie jahrelang den großen juristischen Aufgaben gar nicht gewachsen ist. Möglicherweise sind auch Integrität und Moral der Richter kompromittiert, weil sie Komplizen von Gräueltaten waren. Dann ist von ihnen keine Neutralität zu erwarten. Ohne Neutralität können Gerichte aber ihre Aufgaben nicht glaubwürdig erfüllen. Schon die Beweisaufnahme kann sie überfordern. Wenn aber bekannte Täter mit Freispruch davonkommen, können die Traumata der Opfer nicht heilen.
Aus diesen Gründen ist es oft nötig, „Gerechtigkeit“ neu zu definieren, wenn gesellschaftlich und politisch einflussreiche Personen vor Gericht gebracht werden sollen. Die Alternative ist, die Prozesse so lange aufzuschreiben, bis sich der Frieden konsolidiert hat. Was ist also die beste Option für eine Gesellschaft, um Unrecht wieder gut zu machen und einen Strich unter einen Konflikt zu ziehen? Die Antwort ist: Die beste Option ist das, was den Frieden sichert, bis die Gesellschaft so weit ist, dass sie mit den Differenzen und Kontroversen besser umgehen kann.
Es ist manchmal als „Friedenssuche um jeden Preis“ verstanden worden, wenn Verantwortlichen nicht sofort den Prozess gemacht wird. Dann, so heißt es, komme die Gerechtigkeit zu kurz. Aber die Frage, ob es Frieden ohne Gerechtigkeit gibt, ist falsch gestellt. Die richtige Frage lautet: Gibt es Gerechtigkeit ohne Frieden?
Der Vorrang des Friedens muss dabei nicht zulasten der Gerechtigkeit gehen. Gerechtigkeit muss aber so verstanden werden, dass Frieden und Gerechtigkeit sich parallel entwickeln können.
Solche eine Neudefinition von Gerechtigkeit wirft die Frage auf, ob die Übergangsjustiz sich für eine vergeltende Rechtsprechung entscheidet oder einen opferzentrierten, restaurierenden Ansatz wählt. Die vergeltende Justiz betont die Bestrafung der Täter, während die restaurierende Justiz darauf abzielt, Opfer zu rehabilitieren oder zu entschädigen.
Eine ebenso wichtige Frage ist, wer über diese Definition und ihre Umsetzung entscheidet? Wer soll das tun, wenn nicht die Politiker der betroffenen Nation? Aber werden diese nicht der Versuchung erliegen, ihresgleichen zu decken? Und wenn nicht die Politiker entscheiden, wie lässt sich dann sicherstellen, dass die Entscheidung eine Mehrheit hat? Jedenfalls stellt sich die Frage, ob eine Gesellschaft, die sich von einem schweren Konflikt erholt, überhaupt einen Konsens über diese Dinge finden kann. Vor diesen schwer zu beantwortenden Fragen steht jede Gesellschaft nach einem Bürgerkrieg.
Internationale Politik
In der Realität entscheidet häufig nicht das Volk über das juristische Vorgehen, sondern diejenigen, die Krieg gewonnen oder zumindest den Konflikt beendet haben. Oft herrscht eine Art von „Siegerjustiz“. Die herrschenden Politiker können dabei leicht diejenigen sein, die sich hätten verantworten müssen, hätten sich die Machtkonstellation anders ergeben.
Die internationale Staatengemeinschaft findet Wahrheitskommissionen tendenziell besser, als das die Menschen vor Ort tun. In der betroffenen Bevölkerung wird restaurative Justiz oft als Schlag ins Gesicht der Opfer empfunden, während die Täter fast ungeschoren davonzukommen scheinen (siehe Hintergrund in Seitenleiste).
Häufig hängt die Entscheidung schlicht vom Geld ab. Wer die Kosten dafür übernimmt, frühere Anführer zur Rechenschaft zu ziehen, bestimmt oft über die Art der Justiz, die zum Zuge kommt. Also haben wir es mit einem Thema der internationalen Politik zu tun. In Liberia und Timor Leste zum Beispiel gab es keine Kriegsverbrechertribunale, weil die großen Mächte dieser Welt dafür keine Mittel bereitstellten.
Obwohl die UN sich klar gegen Amnestien von Tätern, die schwere Verbrechen begangen haben, aussprechen, bleibt das in der Praxis bedeutungslos, wenn Prozesse nicht finanziert werden. Ohne das Geld der internationalen Gemeinschaft ist es meist unmöglich, spezielle Gerichte einzusetzen, die nach internationalen Rechtsstandards arbeiten. Es ist gleichfalls unmöglich, Untersuchungsgefängnisse und Strafvollzugsanstalten zu bauen und zu unterhalten.
Nationbuilding
Nach dem Ende eines Konfliktes ist Friedenserhalt das oberste Gebot. Langfristig müssen Traumata jedoch aufgearbeitet werden. Wenn bestimmte Gruppen nicht in den Staat eingebunden, sondern marginalisiert werden, belastet das den ohnehin brüchigen nationalen Zusammenhalt. „Gescheiterte Staaten“ in Afrika haben meist ein Problem gemein: Sie haben es nicht geschafft, ihre Bürger an sich zu binden.
Kein Land kann auf nationalen Zusammenhalt hoffen, wenn viele seiner Bürger weder willens noch fähig sind, friedlich zusammen zu leben, weil sie andere Volksgruppen oder den Staat nicht ausstehen können. Transitionsgesellschaften müssen also klären, ob sie auf eine vergeltende Justiz setzen wollen oder auf restaurierende Ansätze.
Wenn sie sich für Vergeltung entscheiden, ist im nächsten Schritt zu klären, mit welchen institutionellen Strukturen solche Prozesse geführt werden können. Wählen sie dagegen restaurative Konzepte, kann die Straffreiheit von Kriegsverbrechern das Nationbuilding unterhöhlen. Es gibt keine eindeutige Antworten auf diese unvermeidlichen Fragen.
Henrietta J. A. N. Mensa-Bonsu ist Juraprofessorin an der University of Ghana (Legon). Eine englische Langfassung dieses Artikels ausführlicherer Argumentation steht ebenfalls auf unserer Website: http://www.dandc.eu/de/article/langfassung-henrietta-jan-mensa-bonsu-hard-questions-concerning-transitional-justice