Kommentar

Festung Europa

Ende Mai hat die italienische Küstenwache an einem einzigen Tag 3000 Flüchtlinge aus Seenot gerettet. Allerdings ertrinken auch immer wieder Schiffbrüchige im Mittelmeer, die sich ein besseres Leben in Europa erhofften. In den Köpfen vieler Afrikaner ist die EU längst eine fremdenfeindliche Festung geworden. Von Samir Abi
Die italienische Küstenwacht kommt Flüchtlingsboot vor der Küste Siziliens zu Hilfe. picture alliance/ROPI Die italienische Küstenwacht kommt Flüchtlingsboot vor der Küste Siziliens zu Hilfe.

Medienberichte können die ganze Tragweite von Unglücken, bei denen Menschen ums Leben kommen, gar nicht erfassen. Das gilt auch für Meldungen über schiffbrüchige Migranten vor den Küsten Italiens, Spaniens oder Griechenlands. Die Bilder, Zahlen und Fakten verstärken leider die Überzeugung entsetzter Fernsehzuschauer in Europa, dass ihr Kontinent von Horden von Barbaren aus dem Süden überschwemmt wird. Andere Zuschauer sind vermutlich sensibler, und verstehen, dass da Menschen weit entfernt von ihren Familien elendig im Meer ertrinken.

In Afrika und im Nahen Osten lösen dieselben Informationen andere Gedanken aus. Es erfordert Courage, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in See zu stechen – und das einzige Verbrechen, das die Ertrunkenen begangen haben, ist, dass sie ohne Papiere nach Europa gelangen wollten.

Migranten verlassen ihre Heimat immer und überall nur aus einem Grund. Sie suchen ihr Glück. Das Recht auf Glück ist zwar nicht als eigener Artikel in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben, aber dieses Recht durchdringt alle anderen Artikel. Jeder Mensch strebt nach Glück. Das war schon immer so und wird immer so bleiben.

Für manche bedeutet das, eine lebensgefährliche Region zu verlassen, in der Leiden, Krieg, Dürre, Überschwemmungen oder Hunger herrschen, um neue, lebenswertere Horizonte zu erreichen. Aber auch der simple Wunsch nach Wohlstand ist berechtigt.

Was viele Europäer nicht zu verstehen scheinen, ist, dass niemand leichtfertig seine Heimat verlässt. Jeder Aufbruch bedeutet Leid und Zerrissenheit. Migranten brauchen Kraft, um die Ihren zu verlassen. Sie brauchen Mut und Selbstbewusstsein, damit sie sich zutrauen, in der Fremde zurecht zu kommen. Die Entscheidung, wegzugehen, ist immer schwer. Oft erscheint sie die letzte Möglichkeit zu sein, wenn jemand alles versucht hat, um seine Lage zu verbessern.

Migranten sind keine faulen Schmarotzer. Im Gegenteil. Sie sind oft besonders leistungsstark und risikobereit. Sie trauen sich zu, fremde Sprachen zu lernen und Arbeit in einem unbekannten Land zu finden. Viele sind so fleißig, dass sie mehrere Jobs annehmen, wenn man sie nur lässt. Sie wollen Geld verdienen – nicht nur für sich, sondern auch für ihre Familien zuhause. Oft erweisen sich Migranten bei der Arbeitssuche als besonders einfallsreich und kreativ.

Europa verschließt sich; daran gibt es keinen Zweifel. EU-Spitzenleute betonen ständig die Menschenrechte, und europäische Politiker halten in Afrika, Asien und Lateinamerika gern Vorträge über gute Regierungsführung. Dass sie in der Praxis das Menschenrecht politisch Verfolgter auf Asyl geringschätzen, unterhöhlt ihre Glaubwürdigkeit. Dass sie Freizügigkeit für Kapital und Waren in Handelsgesprächen fordern, diese aber Arbeitskräften verweigern, zeugt von Doppelmoral.

Wie engstirnig die EU das Asylrecht handhabt und wie erbarmungslos sie irreguläre Migranten abschiebt, verfestigt in den Köpfen von Beobachtern aus Entwicklungsländern das Bild von der Festung Europa. Die Wahlerfolge nationalistischer Politiker bei der Europawahl im Mai bestätigten einen Trend, der sich schon in den 1990er Jahren abzeichnete.

Das alles widerspricht dem Selbstverständnis der Europäischen Union als internationalem Vorbild für Demokratie, Rechtssicherheit und multikulturellen Pluralismus. Es ist gut, dass beispielsweise die Küstenwacht Italiens heute mehr Flüchtlinge rettet als vor der Katastrophe von Lampedusa im vorigen Jahr. Um das Ansehen Europas international zu reparieren, reicht das aber nicht. Die Asyl- und Migrationspolitik zielt nämlich immer noch auf menschenverachtende Abschottung ab.

Samir Abi leitet die zivilgesellschaftliche Organisation Visions Solidaires in Togo. samirvstg@gmail.com