Indien

Endlose Geschichte

1992 entschied der High Court in Kolkata (damals Kalkutta), dass ein riesiges Areal von Feuchtgebieten im Osten der Stadt nicht urbanisiert werden darf. Das war für die zivilgesellschaftliche Organisation PUBLIC (People United for Better Living in Calcutta) ein großer Erfolg. Sie hatte die Landesregierung von Westbengalen verklagt, weil sie die private Erschließung von Baugrundstücken nicht unterbunden hatte. Interview mit A.K. Ghosh
Nur dank Richterspruch gibt es die East Kolkata Wetlands noch. s, the wetlands would be gone. Nectoy / Lineair Nur dank Richterspruch gibt es die East Kolkata Wetlands noch. s, the wetlands would be gone.

Das geschützte Gebiet der East Kolkata Wetlands ist fast so groß wie die Stadt selbst. Gäbe es das Feuchtgebiet noch, wenn der High Court nicht eingeschritten wäre?

Nein, die meisten Wasserflächen wären trockengelegt und zu Bauland gemacht worden. Das Gericht hat mehrere Urteile gefällt, die zu Meilensteinen wurden – und zwar nicht nur mit Blick auf den Osten Kolkatas. Offenbar erkennen die Richter den Wert der Feuchtgebiete an.

 

Warum sind Feuchtgebiete wichtig?

Sie haben mehrere ökologische Funktionen, und sie sichern vielen Menschen ein Einkommen. Die Wetlands sind natürliche Flutbecken, und sie regulieren das Grundwasser. Sie dienen zudem vielfältigen Arten als Habitat. Fische sind ökonomisch wichtig, und andere Spezies brauchen die Feuchtgebiete auch. In den Dörfern wissen die Menschen, dass sie Teiche für Trinkwasser, Fischfang, Waschen und Bewässerung brauchen. In der Nähe des Ballungsraums ist das aber anders. Dort ist die Nachfrage nach Bauland so groß, dass die Feuchtgebiete bedroht sind.

 

In Westbengalen, dem indischen Bundesstaat, dessen Hauptstadt Kolkata ist, sollen eigentlich die Gesetzgebung  und die Behörden alle Feuchtgebiete schützen. Warum muss die Justiz trotzdem eingreifen?

Es stimmt, die Gesetzgebung ist korrekt, und das gilt auch für die meisten politischen Absichtserklärungen – etwa denen der Kolkata Metropolitan Development Authority. Die Landesregierung hat die East Kolkata Wetlands sogar als Ramsar-Gebiet registrieren lassen. Das bedeutet, die Gebiete sind von internationaler Relevanz, die entsprechend der multilateralen Ramsar-Konvention geschützt werden. Das Problem ist aber die schwache Implementierung. Die Landesregierung und ihre Behörden haben offensichtlich andere Prioritäten. Sie agieren nicht pro-aktiv, und es ist ihnen egal, wenn Immobilienhaie Teiche trocken legen. Sie greifen fast nie ein.

 

Disziplinieren die Richter die Behörden?

Ich denke, sie geben zivilgesellschaftlichen Akteuren eine Möglichkeit, gegen Fehlverhalten vorzugehen. Wenn nichtstaatliche Organisationen nicht aufpassen und die Richter über Vergehen informieren, können die Grundstücksentwickler weitgehend machen, was sie wollen. Die Art von Urbanisierung, die sie vorantreiben, ist aber destruktiv. Die betroffene Gegend ist zum Beispiel besonders von Monsunhochwassern betroffen, was logisch ist, denn es geht ja um die natürlichen Flutauen.  Außerdem gibt es in den East Kolkata Wetlands gewaltige Recycling-Aktivitäten, die organisch belastetes Abwasser nutzen. Die Fischproduktion ist deshalb schätzungsweise doppelt so hoch wie sie sonst wäre. Ähnliche Vorteile gibt es bei der Bewässerung von Feldern.

 

Als ich vor 15 Jahren mein Buch über umweltrelevante Gerichtsprozesse in Kolkata schrieb, hielt ich fest, dass Prozesse im öffentlichen Interesse (Public Interest Litigation)  zivilgesellschaftlichen Akteuren große Mühe bereiten. Sie müssen alle Informationen herbeischaffen, Anwälte bezahlen und viele Tage im Gericht verbringen. Hat sich daran etwas geändert?

Nein, das ist im Großen und Ganzen immer noch so wie im Buch beschrieben. Leider ist die Umweltbewegung nicht sehr stark. Sie besteht vor allem aus kleinen Initiativen ohne bezahlte Mitarbeiter. Ihre Mitglieder sind akademisch gebildete Bürger, die in ihrer Freizeit umweltpolitisch aktiv sind. Kolkata hat mehrere Universitäten und Forschungsinstitute, und diese liefern den NGOs auch Daten, aber sie unterstützen sie ansonsten nicht systematisch. Die Landesregierung zu verklagen bleibt eine mühsame und Zeit fressende Angelegenheit.

 

Es reicht auch nicht, einen Fall zu gewinnen – man muss danach dafür zu sorgen, dass das Urteil befolgt wird. 

Ja, meine Organisation ENDEV war erst kürzlich Teil einer zivilgesellschaftlichen Koalition, die den High Court angerufen hat, weil in den East Kolkata Wetlands der Collector‘s Bheri, ein sehr großer Teich, zu Bauland umgewandelt werden sollte. Er war schon trockengelegt und ummauert worden. Nach dem Urteil mussten wir zwei Monate lang die Behörden bedrängen und die Medien alarmieren, damit endlich gehandelt wurde. Die Mauer ist mittlerweile abgerissen, und der Monsun wird den Teich wieder füllen. Es ist aber noch nichts geschehen, um die Täter zu fassen.

 

Was ändert sich durch ein Gerichtsurteil?

Missachtung der Justiz ist eine Straftat, und wenn der High Court entscheidet, dass jemand seine Urteile nicht befolgt, kann er das ahnden. Deshalb geschieht in der Regel, was die Richter anordnen. Allerdings müssen die NGOs den Druck aufrecht erhalten. In einem anderen Feuchtgebietsfall in der Nähe von Kolkata informierten Bürgerinitiativen die Richter davon, dass Landesbehörden ihr Urteil nicht befolgten, und nur dank einer weiteren Gerichtsentscheidung wurde das Gewässer dann geschützt.

 

Was hat sich in den vergangenen Jahren verändert?

Die Medienberichterstattung ist besser geworden. Journalisten interessieren sich für diese Themen heute mehr als vor 20 Jahren. Das ist hilfreich. Andererseits gibt es heute im High Court keine Umweltkammer mehr. Stattdessen wurde 2010 das National Green Tribunal geschaffen, das in Umweltangelegenheiten schnell urteilen soll und das eine regionale Abteilung für Westbengalen und andere Bundesstaaten in Kolkata unterhält. Aus NGO-Sicht ist sie aber leider nicht effektiv. Wer etwas bewegen will, wendet sich am besten an eine Division Bench am High Court, die aus dem Vorsitzenden Richter Arun Mishra und Richter Jaymalya Bagchi besteht. Diese beiden haben neulich auch im Sinne der Erhaltung des Collector‘s Bheri entschieden.

 

Die Fragen stellte Hans Dembowski