Entwicklungspolitik
Zu viele Fehlschläge
Wer angesichts des wirtschaftlichen Stillstands in Afrika, der Armut, der versagenden Regierungen, des weithin miserablen Bildungs- und Gesundheitswesens, der Bürgerkriege und der Korruption Afrika als „Chancenkontinent“ sieht – wie Gerd Müller, der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – und die Massen perspektiv- und arbeitsloser junger Leute als „pulsierende Jugend“, der verfehlt die Wirklichkeit. Wer aber die Wirklichkeit nicht begreift, ist unfähig zur Lösung ihrer Probleme.
Das Pendant dieses Schönredens ist das Schlechtreden dessen, was wir für Afrika tun: Wir geben zu wenig Entwicklungshilfe, wir beuten Afrika aus, betreiben weiter Kolonialismus und diktieren unfaire Handelsbedingungen – alles Dinge, die mit der Realität nichts zu tun haben.
Eine solche verquere Sicht ist in deutschen Dritte-Welt-Kreisen weit verbreitet. Mit einer rätselhaften Lust zur Selbstbezichtigung wird auch behauptet, europäische Agrarsubventionen ließen afrikanischen Händlern keine Chance, europäische Trawler fischten die Meere vor afrikanischen Küsten leer, unsere Hühnerschenkel- und Milchpulverexporte vernichteten die Lebensgrundlage afrikanischer Landwirte – allesamt unzutreffend.
Der Tenor, der in der Dritte-Welt-Szene dominiert, ist: Wir sind die Bösen, die die afrikanische Entwicklung verhindern. Auch in kirchlichen Kreisen und ihren Hilfswerken sind solche Töne nichts Ungewöhnliches.
Die so reden, machen sich ungewollt zu Komplizen der vielen afrikanischen Herrscher, die in der Tat ihre Völker ausbeuten. In ihren Ohren sind unsere Selbstbezichtigungen Musik.
Zu diesen Fehleinschätzungen kommt eine Haltung, die Afrikas Entwicklung ebenfalls behindert. Niemand kann einen anderen entwickeln; das kann jeder und jede Gesellschaft nur selbst. Die Verantwortung dafür kann nicht auf andere übertragen werden. Wer sich daran nicht hält, verletzt das Subsidiaritätsprinzip, das Grundgesetz allen Helfens. Für die Entwicklungshilfe sind solche Verletzungen geradezu typisch.
Weltbank-Chef Jim Yong Kim bezeichnet seine Mitarbeiter als „Armee, die die Armut beenden wird“. Einer der bekanntesten Aktivisten der „Szene“, der Sänger Bono, fügt hinzu: „Wir haben das Geld, wir können es schaffen.“ So ähnlich redet auch Minister Müller: „Wir haben die Lösungen.“
Solche Äußerungen entspringen angemaßter Zuständigkeit, die gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. Wir haben kein Recht, Afrikaner aus der Verantwortung für ihre Entwicklung zu verdrängen. Ein banales und zugleich krasses Beispiel für diese Umkehrung der Zuständigkeiten war 2016/17 Müllers Initiative „Mehr Platz für Sport – 1000 Chancen für Afrika“. Als wenn Afrikaner nicht selbst Fußballplätze anlegen könnten. Eine absurde Idee!
Sie könnten noch viel mehr machen. Zum Beispiel selbst Straßen bauen und den Sahel begrünen, wie die Israelis es in der Negev-Wüste geschafft haben. Millionen Arbeitslosen könnten sie auf diese Weise Einkommen verschaffen. Aber das Übermaß unserer Zuständigkeit, an das sie sich verständlicherweise gern gewöhnt haben, lässt sie auf die Idee erst gar nicht kommen.
Unser Zuviel bewirkt afrikanisches Zuwenig. Unsere falsche Einstellung hat verheerende Folgen: Warum sollten Afrikaner Straßen und Versorgungsnetze für Strom und Wasser instand halten, warum eine verantwortungsvolle Bevölkerungspolitik betreiben und zurückhaltend sein beim Aufnehmen neuer Staatsschulden? Nach der Logik, die in der Entwicklungshilfe herrscht, wäre das ganz dumm. Deswegen tun sie es auch nicht. Die Bettlermentalität, die sich dadurch verstärkt und längst tief in die Beziehungen zu den „Gebern“ eingegraben hat, ist eines der größten Entwicklungshindernisse.
Statt sie zu bekämpfen, bedienen wir sie stets aufs Neue, indem wir den schlimmsten Fehler begehen, den man angesichts dieser Verhältnisse machen kann: die Entwicklungshilfe erhöhen. Afrika braucht aber nicht mehr Geld, sondern mehr Eigenanstrengung. Diese wird durch mehr Entwicklungshilfe geschwächt. Dieser simple Zusammenhang müsste Entwicklungspolitikern eigentlich zugänglich sein. Ist er aber nicht. Wenn Deutschland dem unsinnigen und schädlichen 0,7%-Ziel wieder ein bisschen näher rückt, herrscht im Bundestag geradezu kindliche Freude, von Links bis Rechts. Dass mehr Geld mit mehr Entwicklung nichts zu tun hat, eher mit dem Gegenteil, weiß man in der aufgeklärten Entwicklungswelt seit langem, auch im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Aber dieses Wissen übersetzt sich nicht in politische Führung.
Das Maß an Irrationalität in der Entwicklungspolitik ist groß. Kühn wird zum Beispiel behauptet, Entwicklung ohne Demokratie gehe nicht. Dabei sind die enormen „Tigersprünge“ ostasiatischer Staaten unter autoritären Regierungen zustande gekommen. Und Ruanda und Äthiopien, deren Wirtschaftspolitik weithin gelobt wird, sind auch keine demokratischen Vorbilder. Die Ideologen, die in der Dritte-Welt-Szene das große Wort führen, schert das nicht.
Der Ungereimtheiten sind viele. In Politikerkreisen wurde irgendwann die Parole beliebt, man müsse den Afrikanern, das heißt den Politikern, „auf Augenhöhe“ begegnen. Mit Anstand, selbstverständlich. Aber kann es darüber hinaus vernünftig sein, den vielen Regierenden, die ihre Pflichten gegenüber den Bürgern gröblichst vernachlässigen, auf Augenhöhe zu begegnen? Und zu verlangen, dass diesen Leuten in den großen internationalen Gremien wie der Weltbank mehr Entscheidungsrechte eingeräumt werden?
Die deutsche Entwicklungspolitik ist weitgehend verunglückt. Beispiel: Entwicklung braucht Industrialisierung. Die wird am besten durch Unternehmer organisiert. In Afrika gibt es aber kaum welche. Also ist es konsequent, unsere Unternehmer für Investitionen in Afrika zu gewinnen. Deren Engagement tendiert bisher in den allermeisten afrikanischen Staaten gegen null. Um das zu ändern, versucht die Bundesregierung, deutschen Unternehmen ein Engagement in Afrika finanziell zu versüßen. Damit zäumt sie das Pferd aber am Schwanz auf, denn die Unternehmer interessiert etwas anderes: funktionierende Verwaltung, Justiz, Infrastruktur, entwicklungsorientierte Politik und so weiter – alles Leistungen, die nur die Afrikaner erbringen können, nicht wir. Eine Politik, die das missachtet, muss daher scheitern. Da helfen auch semantische Spielereien wie Entwicklungs„zusammenarbeit“ statt „-hilfe“ und Marshallplan „mit“ Afrika nicht.
So wie die Entwicklungshilfe seit langem läuft, wird sie nie zu einer autonomen und nachhaltigen Entwicklung Afrikas führen.
Es ist höchste Zeit, dieses unwürdige Spiel zu beenden – und Afrika in Ruhe zu lassen, damit es sich auf seine Kräfte besinnen und sie in vollem Umfang für seine Entwicklung nutzen kann.
Kurt Gerhardt ist Journalist und war Mitinitiator des „Bonner Aufrufs“, in dem Fachleute vor zehn Jahren die Entwicklungspolitik grundsätzlich kritisierten. In den 1980er Jahren hat er für den Deutschen Entwicklungsdienst, der heute zur GIZ gehört, in Niger gearbeitet.
post@kurt-gerhardt.eu
http://www.bonner-aufruf.eu/