Konfliktprävention

Übersehene Blickwinkel

Die Medien neigen zu negativer Berichterstattung, die Gewalttäter mit Aufmerksamkeit belohnt. Friedensstiftende Initiativen machen dagegen kaum Schlagzeilen. Oberflächliche Berichterstattung in westlichen Zeitungen und Sendern führt außerdem dazu, dass die Öffentlichkeit den Kontext vieler Konflikte nicht versteht.

Welche Rolle sollten Medien erfüllen?

Ihre Hauptaufgabe ist es, den gesellschaftlichen Diskurs zu definieren. Es kommt darauf an, wie man über einen Sachverhalt redet und schreibt. Wenn man zum Beispiel über Russland und Putin redet, muss man das auch einordnen. Man muss Jelzin erwähnen, die Umzingelung Russlands durch die Nato und die enge Kooperation der USA mit Japan im Rahmen der Armi tage-Nye-Strategie. Erst dann sollte man etwas über die Fakten sagen. Meistens läuft es aber an- dersherum: Zuerst wird über den Blickwinkel entschieden, und dann werden entsprechend die Fakten geliefert. Unser Blickwinkel ist sehr stark von den engen Beziehungen unserer Länder zu den USA beeinflusst. Das suggeriert den Lesern, wie man über bestimmte Themen redet und welche Dinge man nicht zu wissen braucht.

Das klingt nach Zensur.

Ja, aber die Vorfestlegung auf einen bestimmten Blickwinkel ist eigentlich noch schlimmer. Zensur verbietet nur, bestimmte Fakten zu nennen. Wenn Journalisten wichtige Details auslassen – ob aus Desinteresse oder Unvermögen –, fallen aber oft ganze Dimensionen unter den Tisch. Jeder Blickwinkel bietet eine Teilwahrheit, und es gibt noch andere Teilwahrheiten. Jede Konfliktpartei hat eine. Die Medien sollten ein Treffpunkt der vielen Teilwahrheiten sein, das sind sie aber meistens nicht.

Sie haben den Begriff Friedensjournalismus geprägt. Was ist das?

Friedensjournalismus bedeutet, Nachrichten zu bringen, die den Frieden befördern und nicht den Krieg. Wichtig ist dabei die positive Rückkopplung. Medien belohnen fast nur Gewalttaten, nicht aber Friedenstaten. Natürlich ist es wichtig, Missstände aufzudecken. Aber über das Positive findet man in den Medien fast nichts. Nachrichten über den Nahen Osten sind geprägt von Gewalt. Dabei gibt es auch Positives: Etwa zwei Ehepaare – ein israelisches und ein palästinensisches –, die ihre Kinder aufgrund des Konflikts verloren haben und einen Verband gründen, um den Krieg zu beenden. Indem die Medien über Gewalt berichten, bestätigen sie den Tätern, dass sie erfolgreicher gearbeitet haben. Die Ehepaare aber, die sich trotz aller Widrigkeiten für den Frieden einsetzen, erfahren diese positive Rückkopplung nicht. Dass nicht berichtet wird, signalisiert ihnen, dass ihre Initiative uninteressant ist. Und das ist falsch.

Haben Sie so etwas auch persönlich schon erlebt?

Im sogenannten Karikaturenstreit Anfang 2006 habe ich zwischen muslimischen Geistlichen und der dänischen Regierung vermittelt. Im Kern ging es gar nicht um die Mohammed-Karikaturen, was der Westen leider nicht verstand. Das eigentliche Problem war, dass die Dänen den Dialog verweigerten. Ich machte einen Kompromissvorschlag. Die dänische Regierung sollte zum Dialog einladen, und im Gegenzug sollten die Brandstiftungen aufhören. Am darauf folgenden Montag lud die dänische Regierung entsprechend ein, und es brannte keine Botschaft mehr. Das Interesse der Medien ließ sofort nach. Sie wollten über die Brände berichten, aber nicht über die Lösung des Konflikts. Positives interessiert nicht.

Terroristen nutzen dieses Medienverhalten. Wie sollen Journalisten damit umgehen? Sie müssen berichten, werden aber andererseits instrumentalisiert.

Der Krieg zwischen dem Islam und dem Westen hat schon mit dem islamischen Angriff auf die Iberische Halbinsel 711 angefangen. Die Antwort waren die Kreuzzüge. Anders als der islamische Angriff, der im Grunde eine Besatzung war, waren die Kreuzzüge außerordentlich gewalttätig. Es kam zu immer mehr Gräueltaten, von denen die meisten auf das Konto des Westens gingen. Auch später griffen westliche Mächte immer wieder arabische und muslimische Länder an. Wir müssen nicht nur nach den Ursachen des Fundamentalismus fragen, sondern auch nach den Gründen der Ursachen. Westliche Medien berichten aber fast ausschließlich über Gewalttaten von Muslimen. Sie berichten über den 11. September 2001 ohne jegliches Verständnis dafür, was der Vertrag von 1945 zwischen Saudi-Arabien und den USA für den Islam und insbesondere den Wahabismus bedeutete.

Wahabismus ist eine puritanische Variante des Islam in Saudi-Arabien.

In dem Vertrag verpflichten sich die USA, das Königreich Saudi-Arabien gegen die eigene Bevölkerung in Schutz zu nehmen. Im Gegenzug haben sie Zugriff auf Ölquellen bekommen. Weil derlei nicht erwähnt oder gar erklärt wird, sieht islamischer Fundamentalismus völlig unbegründet aus. Zeitungsleser und Fernsehzuschauer können aus den ihnen bekannten Fakten nur schließen, dass Terroristen böse sind. Ein wichtiger Blickwinkel bleibt außen vor. Andere übersehene Tatsachen sind, dass Italiener den ersten Bombenangriff in der Geschichte, bei dem Frauen und Kinder als strategische Ziele angegriffen wurden, 1911 in Libyen geflogen haben. 1922 haben die Engländer das Gleiche gegen irakische Aufständische getan. Diese Historie ist für die betroffenen Länder sehr wichtig. Schulkinder lesen darüber, alle wissen es. Im Westen aber weiß niemand darüber Bescheid.

Dass in westlichen Medien nicht genug Positives berichtet wird, sagen auch Afrikaner.

Man berichtet zum Beispiel nicht über Ubuntu ...

... eine afrikanische Lebensphilosophie der Mitmenschlichkeit.

Sie spricht davon, dass wir alle Teile voneinander sind. Wenn man aber verstehen möchte, warum die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika so erfolgreich war, ist Ubuntu ein ganz wichtiger Aspekt. Auch wird nicht berichtet, dass es nach der Wahrheitskommission keine politisch motivierten Gewalttaten mehr von Schwarzen gegen Weiße gab. Überfälle und Diebstahl gab es schon noch. Aber das ist – vor allem in einer von Ausbeutung geprägten Gesellschaft – etwas ganz anderes.

Welche Rolle spielen Medien beim Aufbau von Staaten?

Die Medien könnten Positives forcieren, aber es kommt wieder auf den Blickwinkel an. Denn Staatsaufbau ist eine Nachahmung europäischer Geschichte. Es spricht für sich, dass diese Idee nicht hinterfragt wird. Es wird einfach angenommen, dass das die beste Option ist. Vielleicht gibt es aber ganz andere passende Modelle für Afrika. Vielleicht ist auch der Aufbau von Afrika ohne Staaten, sondern als Zusammenschluss von Regionen, eine gute Idee. Schließlich ist die afrikanische Bevölkerung überwiegend nomadisch. Und nach einer gewissen Zeit weiter zu ziehen ist eine bewährte Methode, um Konflikte zu lösen. Staatengrenzen aber machen das unmöglich. Außerdem sollten die Europäer nicht vergessen, dass sie die Grenzen gezogen haben, als sie 1885 auf der sogenannten Kongokonferenz den Kontinent unter sich aufteilten. Diese Grenzen könnte man ebenso wieder aufheben. Und es gibt ja auch panafrikanische Bestrebungen.

Sie regen an, dass Entwicklungshilfe gegenseitig sein sollte. Wie meinen Sie das?

Ich habe kürzlich die Europäische Kommission aufgefordert, ein Expertenkomitee aus afrikanischen Ländern nach Westeuropa einzuladen, um unsere Entwicklung zu analysieren. Dabei geht es nicht darum, dass wir die Empfehlungen unmittelbar befolgen, sondern darum, einen neuen Blickwinkel kennenzulernen.

Ist das nicht sehr theoretisch?

Nein. Es gab so etwas Anfang der 70er Jahre schon mal. Das Institut für Entwicklungsstudien an der Sussex University lud Leute aus Entwicklungsländern nach England ein, um zu erforschen, wo die Hauptprobleme der westlichen Gesellschaft liegen. Sie fanden heraus, dass das dringendste Problem unserer Gesellschaft die Einsamkeit ist. An zweiter Stelle standen Spannungen zwischen ethnischen Gruppen – der Nordirlandkonflikt. Außerdem stellten sie fest, dass vielen Menschen in westlichen Gesellschaften der Sinn des Lebens fehlt. Das Komitee hatte auch Vorschläge, was man dagegen tun könnte. Die waren aber politisch nicht willkommen. Die konservative Premierministerin Margaret Thatcher ließ dem Institut die Mittel kürzen.

Sie schreiben, eine Ursache des weltweiten Armutsgefälles sei ein Mangel an Rücksicht. Was meinen Sie damit?

Die Hauptursache ist das kapitalistische System. Es verschiebt Werte systematisch von unten nach oben. Und das hat verschiedene Wirkungen – je nachdem, ob man unten steht oder oben. Und wenn die da oben zu viel Liquidität haben, machen sie eine Menge Dummheiten. Deswegen haben wir eine ökonomische Krise. Will man den Lebensstand der Menschen verbessern, helfen zwei Methoden. Erstens brauchen nationale Ökonomien tarifären Schutz. So haben das auch die USA praktiziert. Zweitens braucht man einen Wohlfahrtsstaat, der die ärmeren Leute unterstützt. Bildung und Gesundheitsdienste sollten kostenlos sein.

Diese Vorstellungen stehen aber der Politik der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds entgegen. Und so macht man genau das Gegenteil von dem, was nützlich wäre. Das wird aber nicht so bleiben – dass die Lateinamerikaner ihre eigene Banco del Sur als Gegengewicht gegründet haben, ist ein
Zeichen dafür.

Johan Galtung gründete 1959 in Oslo das erste Friedensforschungsinstitut (PRIO). Der Mathematiker und Soziologe bekam 1987 den Alternativen Nobelpreis für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Friedensforschung. Heute leitet er das internationale TRANSCEND-Netzwerk für Frieden und Entwicklung.
galtung@transcend.org
www.transcend.org

Die Fragen stellte Claudia Isabel Rittel.