Öffentliche Meinung

Unverzichtbarer Qualitätsjournalismus

Demokratie braucht faktenbasierte Aus­einandersetzung. Um die entsprechende Medienkultur zu schützen, ist Handeln auf verschiedenen Feldern nötig. Journalistische Qualitätsstandards sind wichtig und sollten allgemein bekannt sein.
Anhänger des russischen Präsidenten Vladimir Putin vor seiner Wiederwahl im März – er war der einzige ernstzunehmende Kandidat. Korotayev Artyom/picture-alliance/dpa Anhänger des russischen Präsidenten Vladimir Putin vor seiner Wiederwahl im März – er war der einzige ernstzunehmende Kandidat.

In März veröffentlichte eine Expertengruppe (High-level Expert Group – HLEG) im Auftrag der Europäischen Kommission sinnvolle Vorschläge zum Kampf gegen Desinformation und „fake news“. Sie verdienen internationale Beachtung.

Die HLEG lehnt den Begriff „fake news“ ab, weil Politiker mit autoritären Neigungen ihn verwenden, um Kritik an ihnen selbst zu diskreditieren. Die Fachleute bevorzugen den Terminus „Desinformation“, den sie für „jede Art von falschen, ungenauen oder irreführenden Informationen“ verwenden, die dazu dienen „öffentlichen Schaden anzurichten oder Profit zu erzielen“.

Desinformation ist nicht in jedem Fall illegal. Wie kann das Phänomen bekämpft werden, ohne das Grundrecht der Meinungsfreiheit einzuschränken? Die HLEG empfiehlt dafür ein mehrdimensionales Vorgehen mit folgenden „fünf Säulen“:

  • erhöhte Transparenz darüber, wie und an wen Online-Informationen verbreitet werden,
  • die Förderung von Medienkompetenz, damit Verbraucher das Umfeld besser verstehen,
  • neuartige Instrumente, um Verbraucher und Journalisten zu befähigen, die sich schnell entwickelnde Kommunikationstechnik kompetent zu nutzen,
  • Schutz der Vielfalt des bestehenden medialen Ökosystems in Europa mit Förderung seiner Nachhaltigkeit und
  • systematische Forschung über die Wirkung von Desinformation und geeignete Gegenmaßnahmen.

Wie die Experten ausführen, geht der Kampf gegen Desinformation die ganze Gesellschaft an. Er könne nicht dem Staat überlassen werden, nicht alle europäischen Politiker und Behörden hätten denselben Respekt vor der Pressefreiheit. Manche streuten selbst Desinformation. Obendrein könnten ausländische Akteure europäische Politik beeinflussen wollen.

Als ersten wichtigen Schritt sollen laut der Expertengruppe relevante Unternehmen und Interessengruppen – von Presse und Rundfunk über Rechercheure bis hin zu Werbeagenturen – einen europäischen Praxiscodex verabschieden, der Rollen und Verantwortlichkeiten definiert. Die HLEG meint, alle digitalen Medien müssten sämtliche Informationen liefern, die Nutzer brauchen, um zu verstehen, wer welche Meldungen verbreitet – einschließlich Angaben über Geschäftsmodelle, Sponsoren und Anzeigenkunden. Zudem stehe Verbrauchern Information über Finanzierung, Algorithmen und automatisierte Programme zu. Schließlich müssten Internet-Plattformen auch Fact-Checking erleichtern, indem sie entsprechende Links anbieten und problematische Inhalte markieren.

Laut Urteil der Fachleute muss die Medienkompetenz generell gesteigert werden. Verbraucher müssten wissen, wie Medien arbeiten, um Fälschungen zu erkennen. Sie sollten Qualitätskriterien kennen und wissen, warum Fehler trotzdem vorkommen. Zugleich solle unabhängiger, faktenbasierter Journalismus ermutigt werden – und zwar besonders, wenn er mächtige Interessen in Frage stelle. Schulen und andere Institutionen müssten Medienkompetenz fördern. Obendrein fordert die HLEG Weiterbildung für Medienprofis, um sie auf der Höhe der technischen Entwicklung zu halten.

Aus Sicht der EU-Fachleute stecken herkömmliche Medien – vor allem die Presse – in einer Krise. Das Internet untergrabe mit kostenlosen Nachrichten bewährte Geschäftsmodelle. Sie sprechen sich dafür aus, Qualitätsjournalismus mit öffentlichen Mitteln zu fördern. Eine Möglichkeit seien Steuerbefreiungen.

Schließlich fordert die HLEG, die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten ein Netzwerk unabhängiger Forschungsinstitute einrichten. Deren Wissenschaftler würden dann unter anderem:

  • verfolgen, wie sich Ausmaß, Methoden und Mittel der Desinformation entwickeln,
  • Quellen von Desinformation benennen und
  • das entsprechende Wissen relevanten Akteuren zur Verfügung stellen.

Die Vorschläge sind stimmig. So kann Europa Desinformation bekämpfen. Allerdings hängt der Erfolg davon ab, ob genügend Akteure mitmachen. Leider betreiben manche Medienhäuser selbst populistische Desinformation. Sie müssen benannt und bloßgestellt werden.

Das Konzept der HLEG kann grundsätzlich überall funktionieren. Die Autoren räumen aber ein, dass Europas starke Infrastruktur, hohes Bildungsniveau und lebhafte Zivilgesellschaft hilfreich sind. Medienkompetenz ist sicherlich dort schwerer zu fördern, wo Analphabetismus noch vorkommt. Dort, wo das Recht auf freie Rede noch jung ist, dürfte es auch schwerer sein, Bürger zum unabhängigen Faktencheck zu ermutigen.


Gesellschaft ohne Wahrheit

Wie verunsichernd ein Lebensumfeld ohne Wahrheitsbezug sein kann, beschreibt Peter Pomerantsev in seinem Buch „Nichts ist wahr und alles ist möglich“. Seine Geschichten sind so bizarr, dass sie erfunden zu sein scheinen. Wer aber die Namen von Personen und Orten bei Google eingibt, stellt schnell fest, dass sie eine gewisse Substanz haben müssen.

Pomerantsev ist ein britischer Fernsehjournalist russischer Abstammung. Er hat ein Jahrzehnt lang in Moskau gearbeitet und berichtet in seinem Buch von seinen Erlebnissen. Als Reporter hatte er mit vielen unterschiedlichen Menschen zu tun – darunter Gauner, Manager, Beamte, zivilgesellschaftliche Aktivisten und Mode-Models. Manchmal gehen die Rollen ineinander über. Pomerantsev beschreibt eine Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt. Kontakte sind wichtig, die Wahrheit ist unwichtig. Alle Nachrichten sind irgendwie manipuliert.

Pomerantsev stellt klar, dass das Regime gar nicht darauf abzielt, dass alle seine Propaganda glauben. Der entscheidende Punkt ist, dass es sehr mächtig sein muss. Wenn es sich mit permanenten Lügen behaupten kann, muss es die Macht haben, zu entscheiden, was stimmt und was nicht. Ein Fazit ist, dass, wenn niemand vertrauenswürdig ist, wohl hinter allem eine dunkle Hand stecken muss.

Eine bezeichnende Episode behandelt das Schicksal von Yana Yakovleva, einer Unternehmerin, die eines Tages verhaftet und des Drogenhandels bezichtigt wurde. Die Anklage war absurd, aber ihr Prozess dauerte lange und sie blieb in Haft. Der Hintergrund war ein Streit im Geheimdienst: Ein Spitzenmann wollte mit ihrer Verurteilung ein Exempel statuieren, was aber den Interessen eines Konkurrenten widersprach. Weil Letztere den besseren Draht zum Präsidenten hatte, kam sie am Ende frei. Ihre Geschichte belegt, dass niemand sicher ist. Wer heute Schutz genießt, kann morgen in Ungnade fallen.

Das letzte Kapitel beschreibt, wie Patriotismus zunehmend aggressiv artikuliert wird. Die Regierung verspricht neue nationale Größe und schafft ein Klima der Paranoia. Gewalt gilt als normal, und wer widerspricht, wird schnell zum Feind erklärt.

Im Vorwort der britischen Auflage von 2017 warnt Pomerantsev, Russland könne paradigmatisch sein. Ihn beun­ruhigt, dass ein „Reality-show-star“ US-Präsident wurde und „Politik mit Unterhaltung ersetzt“.


Grundlagen des Journalismus

Wenn die Medien in den USA besser gearbeitet hätten, wäre die Lage vielleicht weniger bedrohlich. Donald Trump hat von dem profitiert, was heute „falsche Äquivalenz“ genannt wird: Amerikanische Journalisten neigen dazu, in einer politischen Kontroverse, „beiden Seiten“ gleichen Raum zu geben und Äquidistanz zu halten.

Das haben Bill Kovach und Tom Rosenstiel in ihrem Buch „The elements of journalism“ schon 2001 kritisiert. Sie betonen, die Aufgabe von Journalisten sei, Menschen durch Information das Leben in Freiheit und Demokratie zu ermöglichen. Ihre Leitthesen lauten:

  1. Wahrheit ist die vorrangige Pflicht des Journalismus.
  2. Loyalität gebührt vor allem den Bürgern.
  3. Verifikation ist essenziell wichtig.
  4. Medienprofis müssen unabhängig von denen bleiben, über die sie berichten.
  5. Journalismus muss denen auf die Finger schauen, die Macht ausüben.
  6. Er muss ein Forum für öffentliche Kritik und Kompromissfindung bieten.
  7. Journalisten sollen Wichtiges interessant darstellen.
  8. Nachrichten müssen ihrer Relevanz entsprechend vollständig sein.
  9. Journalisten müssen auf ihr Gewissen hören.
  10. Bürger haben, was Nachrichten angeht, Rechte und Pflichten.

Worauf sich diese Thesen stützen und was aus ihnen folgt, wird Kapitel für Kapitel herausgearbeitet. Medienschaffende, die ihrer Verantwortung gerecht werden wollen, sollten das Buch ernst nehmen. Es ist heute vielleicht noch wichtiger als beim Ersterscheinungstermin 2001. Desinformation hat weltweit zugenommen – zu Gunsten skrupelloser Politiker.


Quellen

High-Level Expert Group, 2018: A multi-dimensional approach to disinformation.
https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/news/final-report-high-level-expert-group-fake-news-and-online-disinformation

Kovach, B., and Rosenstiel, T., 2001, 2007: The elements of journalism. What newspeople should know and the public should expect. New York: Three Rivers Press.

Pomerantsev, P., 2015, 2017: Nothing is true and everything is possible. London: Faber and Faber. Deutsche Ausgabe 2015: Nichts ist wahr und alles ist möglich. München: Deutsche Verlagsanstalt.