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Glaube und Politik

Zerrissene Nation

Die türkische Regierungspartei AKP spaltet das Land politisch und geographisch in Befürworter und Gegner. Für westliche Beobachter ist schwer nachzuvollziehen, weshalb sie besonders in den Großstädten so heftig abgelehnt wird – scheint sie doch die Partei zu sein, die auch religiöse Kräfte für sich einzunehmen und islamische Radikalisierung dadurch zu verhindern weiß.

Von Maren Zeidler

Burak Özal ist 28. Er hat in Harvard BWL studiert und arbeitet heute für eine große Unternehmensberatung in New York. Sein Facebook-Profilfoto zeigt den Gründer der kemalistischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, mit Nationalfahne. Özal ist fanatischer Verteidiger der kemalistischen Republik und ihrer laizistischen Werte. Özal ist kein Einzelfall.

Denizli liegt im Südwesten der Türkei. Die Stadt hat knapp 500 000 Einwohner und wird von der Textilwirtschaft dominiert. Die zumeist islamischen Holdings halten sich an Vorgaben aus dem Koran, zum Beispiel das Zinsverbot. Wer hier Arbeit sucht, sollte ein Kopftuch tragen oder seine Frau dazu anhalten. In der Innenstadt wird man kein Lokal finden, das Alkohol ausschenkt. Auch Denizli ist kein Einzelfall.

Die Regionen und Bevölkerungsgruppen der Türkei unterscheiden sich zutiefst, was die Bedeutung des Islam im Alltag angeht. Politisch scheint das Land jedoch stabil und wird vom Ausland dafür geschätzt. Weil in der arabischen Welt Regime wanken und stürzen, sinnieren westliche und arabische Journalisten darüber, ob das türkische Modell für andere muslimische Länder taugt.

Das türkische Modell, das ist vor allem die Regierungspartei AKP und ihr Vorsitzender Recep Tayyip Erdogan. Der Politiker und „seine“ AKP spalten das Land ideologisch und geographisch in heftige Gegner und leidenschaftliche Befürworter. Während in den Großstädten und an der Mittelmeerküste das kemalistische Establishment und Intellektuelle wie Özal Einfluss haben, die den Laizismus verteidigen und sich gegen die AKP aussprechen, entsteht in Anatolien und den eher ländlichen Gebieten der Westtürkei wie Denizli eine Art islamische Bourgeoisie, ein neuer religiöser Mittelstand, der die AKP unterstützt.

Was ist das für eine Partei, die das Land spaltet und doch von vielen Staatschefs als guter Partner wahrgenommen wird? Die den Beitritt zur Europäischen Union (EU) vorantreibt – wenn auch zuletzt eher zögerlich –, Reformen umsetzt, sich modern und demokratisch gibt, jedoch in den letzten Wochen in bisher unbekanntem Ausmaß Journalisten und Kritiker festnehmen ließ?

Die Partei selbst beschreibt sich in ihrem Wahlprogramm als neoliberal. Sie steht aber auch zu ihren ­islamisch-konservativen Wurzeln und Wertvorstellungen. Parteigänger ziehen gerne den Vergleich zum Konservatismus der CDU/CSU in Deutschland.

Die AKP wurde 2001 von Erdogan gemeinsam mit dem heutigen Staatspräsidenten Abdullah Gül und anderen Politikern gegründet. Ermöglicht hat diese gemäßigt-islamistische Partei eine neue religiös-­bürgerliche Schicht, die ihre Wurzeln in Anatolien hat. Schnell stieß die AKP ob ihrer Nähe zu gläubigen Kreisen jedoch im erzkemalistischen Staatsapparat und in Teilen der türkischen Bevölkerung auf Misstrauen.

Die AKP bekennt sich offen zu den Grundsätzen der türkischen Republik und hat dieses Bekenntnis bisher in ihren politischen Entscheidungen umgesetzt. Unter dem Druck der EU-Beitrittsverhandlungen hat die Partei seit ihrem Regierungsantritt im Jahr 2002 eine Vielzahl an Reformen angestoßen. Besonders wohlwollend wurde von europäischer Seite die Teilentmachtung des Nationalen Sicherheitsrates aufgenommen, was die große Macht des Militärs schmälerte. Im Gegenzug stiegen die Kompetenzen des Ministerpräsidenten. In den letzten Monaten haben die EU-Beitrittsverhandlungen die politische Priorität eingebüßt, innenpolitisch nimmt nun zunehmend die Bekämpfung des Geheimbundes Ergenekon eine Schlüsselrolle ein (siehe Box).

Der Reformeifer der AKP und ihre Bemühungen um den EU-Beitritt werden vom kemalistischen Establishment mit großem Misstrauen beäugt. Bei jeder Machterweiterung der Partei, des Parlaments oder des Ministerpräsidenten verkündet es den Untergang der Republik. Besonders das religiöse Bekenntnis der führenden Politiker der AKP ist Stein des Anstoßes. Dies gipfelte 2008 darin, dass der Generalstaatsanwalt ein Verbotsverfahren wegen vermuteter „anti-­laizistischer Aktivitäten“ initiierte. Das Verfassungs­gericht lehnte das Verbot der AKP in einer denkbar knappen Entscheidung ab.

Objektiv betrachtet steht die Religiosität eines Politikers nicht im Widerspruch zum politischen Laizismus. Die AKP betont immer wieder, dass zur Demokratie nicht nur die Trennung von Staat und Kirche gehören, sondern auch die freie Äußerung des persönlichen Glaubens. Wenn man jedoch den politischen Werdegang der AKP-Führungspersonen genauer unter die Lupe nimmt, erscheint der heftige Widerstand in den Städten plausibler.

Religiöse Rhetorik

Sowohl Gül als auch Erdogan bedienten sich in der Vergangenheit wiederholt islamistischer Rhetorik. Erdogan zitierte 1998 auf einer Konferenz aus einem islamischen Gedicht: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Daraufhin erhielt er ein fünfjähriges Politikverbot und konnte nach der Wahl 2002 den Posten des Ministerpräsidenten zunächst nicht antreten. Aus Erdogans Zeit als Istanbuler Oberbürgermeister in den neunziger Jahren rührt auch das Alkoholverbot in Lokalen der Stadtverwaltung.

Die Entwicklung in Städten wie Denizli schürt die Befürchtungen, dass die religiöse Einstellung der Parteigänger auch in die Politik transportiert wird. Kürzliche Festnahmen von Journalisten scheinen solche Besorgnisse zu bestätigen.

Fakt ist: Schon Necmettin Erbakan, der in den siebziger Jahren die neue islamistische Bewegung maßgeblich beeinflusste, träumte von einer Islamisierung des Staates über die Wirtschaft. Erdogans Werdegang ist eng mit Erbakan verknüpft. Er trat bereits 1970 in Erbakans Nationale Ordnungspartei ein und gehörte nach dem Verbot auch den Nachfolgeparteien an.

Fakt ist auch: Die Geschichte der modernen Türkei ist geprägt von einer wechselhaften, aber engen Beziehung zum Islam. Staatsgründer Atatürk verfügte in den zwanziger Jahren eine strikte Trennung von Staat und Religion. Der Islam wurde in den folgenden Jahren aus dem öffentlichen Leben verbannt. Die Türkei wurde jedoch keineswegs entislamisiert, vielmehr nahm die Religion nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine integrative Rolle ein – sie wurde im Vielvölkerstaat Türkei das einende Element, jedoch vom Staat nur im Privaten geduldet. Es bildeten sich zunehmend Strömungen, die gegen die Unterdrückung des Islam opponierten.

Seit dem Militärputsch 1980 versuchte das Militär die Religion für sich zu nutzen. Es führte Religionsunterricht an allen Schulen ein und instrumentalisierte die staatliche Religionsbehörde. Das Ziel war, den Islam zu nationalisieren und gleichzeitig die Nation mit dieser neuen Staatsreligion zu islamisieren. Durch diesen republikanisch-nationalistischen Staatsislam sollte die türkische Gesellschaft säkularisiert und die unterschiedlichen konfessionellen Ausrichtungen homogenisiert werden, um eine Einheit gegen den kurdischen Nationalismus zu bilden. Die AKP fällt aus dieser Strategie heraus und muss sich doch in diese Grundzüge der türkischen Republik einfügen. Dies gelingt nicht immer und die Partei ist deshalb für viele Türken zum Feindbild geworden.

Taten bewerten, nicht Absichten

Trotz aller Befürchtungen ist es falsch, die Partei an ihren Absichten statt an Taten zu messen. Auch das kemalistische Establishment versteht sich selbst zwar als aufgeklärte Kraft des Landes, verharrt aber seit mehr als zwei Jahrzehnten in einem autoritären und undemokratischen Staatsverständnis. Von hier ist kein Wandel zu erwarten. Sollten aber junge Intellektuelle aus dem kemalistischen Lager einen Modernisierungsprozess anstoßen, könnten sie wieder zu einer ernsthaften Alternative zur AKP werden.

Die AKP entwickelte sich seit ihrer Gründung zunehmend zu einer Partei der neuen türkischen Mitte, was auch die Wahlergebnisse der Parlamentswahlen 2002 und 2007 bekräftigen. Erdogans großer Wahlerfolg im Jahr 2007 beruhte darauf, dass die Regierung in den fünf Jahren vor der Wahl mehr Reformen umsetzte, als alle säkularen Regierungen in den 50 Jahren zuvor. Der Wandel der AKP zur modernen Mitterechts-Partei wirkt überzeugend und macht sie für viele Wählerschichten attraktiv. Hinzu kommt, dass die Partei politisch keine ernstzunehmende Konkurrenz hat. Diese Position kann sie aber nur behaupten und den Widerstand aus dem kemalistischen Lager nur in Schach halten, wenn sie an ihrer gemäßigt islamistisch-konservativen Linie festhält.

Die Reformfreudigkeit und die Orientierung hin zur EU haben in den letzten Monaten eindeutig an Fahrt verloren. Das ist keine gute Entwicklung und sollte rückgängig gemacht werden. Vor allem aber muss sich die AKP weiterhin nach den wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnissen der türkischen Bevölkerung richten. Nicht zu diesen Bedürfnissen zählt eine gesteigerte Religiosität. Der Eindruck, die türkische Gesellschaft sei islamischer geworden, trügt.

Die ländliche Bevölkerung und die anatolischen Städte waren immer schon religiös geprägt, durch den wirtschaftlichen Aufschwung in den letzten Jahren sind diese Gruppen aber weiter in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Dieser Entwicklung muss Rechnung getragen werden. Das macht derzeit nur die AKP. Die Partei hat die Befindlichkeiten und Bedürfnisse eines großen Teils der türkischen Bevölkerung erkannt. Ihr wird auch bei den nächsten Wahlen im Juli 2011 ein Sieg prognostiziert.