Justizversagen
Straflose Gewalt in Gujarat
Die Rechtsanwältin Pritha Jha ärgert sich über indische Richter, weil diese Massengewalt regelmäßig ungeahndet lassen. In den Urteilen heißt es dann typischerweise, derartige Verbrechen seien „spontan“ ausgeführt worden, wobei brutale Mobs ebenso plötzlich „aufgetaucht“ wie sie dann wieder „verschwunden“ seien. Staatliche Stellen seien deshalb damit überfordert, solche Konflikte zu unterbinden oder wenigstens zu beenden, und auch die juristische Aufarbeitung sei kaum möglich.
Pritha Jha hält das für Unsinn. Sozialwissenschaftlich ist in der Tat längst bekannt, dass gezielte, massenhafte Gewalt gegen Minderheiten ohne vorherige Organisation nicht möglich ist. Das gilt selbstverständlich auch für die Ausschreitungen in Gujarat, die 2002 das Leben von an die 2000 Muslimen forderten. Weil diese Verbrechen bis heute kein nennenswertes gerichtliches Nachspiel hatten, wirft die Juristin den Ermittlungsbehörden zumindest Desinteresse vor. Kumpanei mit den Tätern hält sie für wahrscheinlicher. Sie beanstandet, dass sich in den Ermittlungsunterlagen immer wieder dieselben platten Formulierungen wiederholen und dass mehrfach Zeugen eingeschüchtert worden seien.
Dass Polizei und Gerichte ihren Aufgaben in dieser Krise nicht nachgekommen sind, hat für Mukul Sinha vom New Socialist Movement in Ahmedabad, der Hauptstadt Gujarats, System. Er erkennt in den Pogromen eine Verfassungskrise, bei der es um den säkularen Charakter der Republik gehe. Der Chief Minister des Bundesstaates, Narendra Modi, gehört zum rechten BJP-Flügel.
Diese Partei betont die hinduistische Identität Indiens, ihre ideologischen Stammväter forderten auch eine entsprechende Verfassung. Sinha sagt, Modi habe die nichtreligiöse Rechtsordnung Indiens nie anerkannt und handle entsprechend der Verfassung, die er sich stattdessen wünsche. Sinha stützt seine Argumentation allerdings nicht nur auf ideologische Indizien. Wie er berichtet, lässt sich anhand der Handy-Telefonate der Gewaltnächte beweisen, dass Polizei und Mörderbanden kontinuierlich in Kontakt standen. Um an Beweismaterial zu kommen, beteiligte sich seine Organisation an einer amtlichen Untersuchungskommission, von der andere zivilgesellschaftliche Initiativen von vornherein sagten, sie diene nur dazu, Modi reinzuwaschen.
Die juristischen Vorgänge rund um die Gewalt von Gujarat waren im Januar Thema eines der Panels der Inaugural Conference des Law and Social Sciences Research Network. Bei der Tagung, die mit Unterstützung der Max-Planck-Gesellschaft und der Ford Foundation in Delhi stattfand, wurde unter anderem diskutiert, ob Gujarat nicht ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag sein müsste. Dagegen spricht allerdings, dass Indien durchaus eine unabhängige Justiz hat und die Regierungen in Bund und Ländern gewählt sind, der ICC aber nur zuständig ist, wenn Strafverfahren im Tatland unmöglich sind.
Upendra Baxi, Rechtsprofessor an der britischen Warwick University, lobte derweil die USA, weil sie Modi wegen der Pogrome die Einreise verweigern. Er schlug vor, europäische Regierungen könnten dazu bewogen werden, sich ähnlich zu verhalten. Modi gilt vielen Indern als besonders gefährlich, weil er mit Erfolg Investoren anwirbt und sein Bundesstaat als Entwicklungsmodell erscheint. Dass er seine Politik brutal durchsetzt, finden Industriemanager möglicherweise sogar attraktiv, wenn sie mit Protest gegen ihre Vorhaben richten. So entschied sich beispielsweise der Tata-Konzern für Gujarat, nachdem er Pläne für eine Kleinwagenfabrik im kommunistich regierten West-Bengalen aufgeben musste.
(dem)