Migration
Große Chancen
Von Laura Hinze
Die deutsche Öffentlichkeit akzeptiert heute, dass Migranten sich in ihren eigenen Vereinen und Verbänden zusammentun, und erwartet, dass solche Organisationen sich konstruktiv am sozialen Leben beteiligen. Dietrich Thränhardt, Professor an der Universität Münster, erkennt dabei aber ein Paradoxon. Einerseits werde von den Migranten gefordert, sie sollten sich zusammenschließen, und wenn sie es täten, heiße es, sie bildeten eine Parallelgesellschaft. Thränhardt hält in der Integrationsdebatte Pluralismus und offenen Dialog für wesentlich.
Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) ist einer der Dachverbände, dem sich Migrantenorganisationen anschließen. Ercüment Toker vom DPWV sagt, die meisten dieser Vereine wollten professionelle Strukturen schaffen, um Integrationspolitik mitzugestalten und Verantwortung zu übernehmen. Der Wunsch nach Teilhabe sei groß. Allerdings warnt Karin Weiss vom zuständigen Landesministerium in Brandenburg vor Überforderung: „Die Vereine sollen möglichst für alles zuständig sein, von Kinderbetreuung bis Terrorismusbekämpfung.“ Das sei zu viel verlangt, sagte sie Ende August bei einer Tagung der katholischen Akademie Franz-Hitze-Haus und der Friedrich-Ebert-Stiftung in Münster.
Laut einer Studie des Bundesamts für Flüchtlinge und Migration engagieren sich etwa zehn Prozent der Zuwanderer in Deutschland ehrenamtlich – vor allem in kulturellen und religiösen Vereinen. Mittlere Altersgruppen seien über- und Frauen unterrepräsentiert. Die Jugend müsse künftig stärker motiviert werden.
Rückwirkungen auf Herkunftsländer
Das Engagement in Vereinen in Zuwanderungsländern kann auch Rückwirkungen auf die Herkunftsnationen haben. Ein Beispiel sind alevitische Organisationen. Ihre Glaubensrichtung entwickelte sich aus dem schiitischen Islam und ist in der Türkei weit verbreitet. Sie wird dort aber vom Staat und der mehrheitlich sunnitischen Bevölkerung nicht anerkannt.
Erst durch Selbstorganisation in Zuwanderungsländern hätten Aleviten begonnen, sich öffentlich zu ihrer Identität zu bekennen, sagt Handan Aksünger, Gastdozentin an der Universität Hamburg. Ihren Glauben offen ausleben zu können stärke das Selbstbewusstsein. Mittlerweile suchten Aleviten auch den Dialog mit anderen Religionen. Laut Aksünger vertreten heute wegen solcher Erfahrungen emigrierter Verwandter und Bekannter Aleviten in der Türkei ihre Interessen mit mehr Nachdruck.
Fachleute hoffen, dass Migranten in ihrer Heimat zu mehr Toleranz, der Anerkennung demokratischer Prinzipien und Entwicklung beitragen (siehe auch Aufsatz über marokkanische Migranten von Rahim Hajji und Soraya Moket auf S. 392 f.). Irakische Diasporagemeinschaften erfüllten diese Hoffnungen, sagt Menderes Candan, Doktorand der Universität Münster. Nach Ausbruch des Irakkriegs 2003 sei in Deutschland die Zahl der Vereine ausgewanderter Iraker stark angestiegen. Zuvor hätten sie aus Angst vor dem diktatorischen Regime Saddam Husseins im Verborgenen agiert.
Candan zufolge leisteten solche Diaspora-Verbände einen großen Beitrag zum Wiederaufbau des Irak. Überweisungen von Migranten in die Heimat, Wissenstransfer sowie Unternehmensgründungen hätten das Land vorangebracht. Zurückkehrende Migranten verträten oft demokratische Werte und beteiligten sich am Staatsaufbau. Candan bedauert aber, dass die deutsche Politik diese Verbindungen nicht entwicklungspolitisch nutze. Seiner Meinung nach sollte der Staat Migrantenvereine systematisch unterstützen.
Die Praxis zeigt leider, dass Migrationserfahrungen nicht immer zu mehr Offenheit führen. Das Ergebnis kann auch stärkere Abgrenzung sein. Laut Bekim Agai, Gastdozent für Islamwissenschaften an der Universität Bonn, werden Migranten aus islamischen Ländern oft erst im Ausland „im sozialen Sinne zu Muslimen gemacht“. Das beeinflusse ihre Selbstwahrnehmung, und sie definierten ihre Identität zunehmend über den Glauben. Dass Parallelgesellschaften entstehen, liegt Agai zufolge auch an der Mehrheitsgesellschaft, die Hinzugezogenen die Integration schwer macht.
Laura Hinze