Myanmar
„Suu Kyi muss ihre Macht ausweiten“
Nach fast einem halben Jahrhundert der Militärdiktatur kamen die neuen Volksvertreter am 1. Februar erstmals zusammen. Die National League for Democracy (NLD) mit Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi an der Spitze hatte die Wahlen am 8. November mit überwältigender Mehrheit gewonnen.
„Aufgrund dieses Ergebnisses sind die Erwartungen der Menschen extrem hoch“, sagt Sai Ye Kyaw Swar Myint, Chef der zivilgesellschaftlichen Organisation People’s Alliance for Credible Elections (PACE). „Die Frage ist, wie die NLD mit diesen Erwartungen umgehen wird. Der Wandel kommt nicht über Nacht, aber darauf hoffen die Menschen.“
Große Diskussionen kreisen um die Frage, wer im April das Präsidentenamt übernimmt. Suu Kyi ist der Posten qua Verfassung verwehrt, da ihre Kinder eine ausländische Staatsbürgerschaft haben. Ansonsten wäre die ebenso beliebte wie mächtige Politikerin, die während der Militärdiktatur jahrelang unter Hausarrest stand, die aussichtsreichste Kandidatin.
Sie selbst hatte im vergangenen Jahr verkündet, durch den Sieg ihrer NLD „über dem Präsidenten“ zu stehen. Manch einer kritisierte diese Äußerung als undemokratisch. Dagegen erklärt der Aktivist Naing Ko Ko, Suu Kyi habe die Verfassung damit in Frage gestellt und ihre Reform vorbereitet. Die Verfassung schränke die NLD ein.
Das Parlament kann dieses zentrale Rechtsdokument jedoch nicht ohne Zustimmung des Militärs ändern. „Die Verfassung bindet der NLD die Hände. Sollten sie weiterhin in diesem Rahmen operieren, stehen sie früher oder später vor einem Dilemma“, sagt Jasmin Lorch vom GIGA Institut für Asien-Studien.
In den hohen Erwartungen an die „Lady“, wie Suu Kyi auch genannt wird, und Druck für eine Verfassungsreform sieht Lorch Risiken. „Wenn die Lady es schafft, Mitglieder der politischen Elite zu weiteren Veränderungen zu bewegen, könnte das zu Rissen innerhalb des Militärs und letztlich zu Unruhe führen.“
Insgesamt ist es eine heikle Lage für Suu Kyi, sind sich die Teilnehmer einer Podiumsdiskussion einig, die die Konrad-Adenauer-Stiftung im Januar in Berlin organisierte. Die militärnahe Union Solidarity and Development Party (USDP) verfügt über ein Viertel der Sitze im Parlament und kontrolliert wichtige Ministerien.
Die Menschen haben kein Vertrauen in die Armee, die für brutale Menschenrechtsverletzungen unter ihrer Herrschaft verantwortlich ist. Viele sehen die Bereitschaft Suu Kyis, mit den Militärs zu verhandeln, nicht gerne. Aber auch viele ehemalige politische Gefangene streben Versöhnung an, um den Reformprozess und die ausländischen Investitionen nicht zu gefährden. Die internationale Gemeinschaft setzt auf Suu Kyi, was die Bekämpfung der Armut, die wirtschaftliche Entwicklung und den Umweltschutz angeht – egal, ob sie Präsidentin ist oder nicht.
Ein großes Problem in Myanmar stellt die Gewalt gegen die ethnische Minderheit der Rohingya dar. Islamfeindlichkeit ist in dem mehrheitlich buddhistischen Land weit verbreitet. Die Rohingya werden brutal verfolgt, ihnen wird die Staatsbürgerschaft verwehrt, und sie sind gezwungen, in Lagern zu leben. Die scheidende Regierung verabschiedete mehrere Gesetze, die gegen die Minderheit gerichtet waren, und auch Suu Kyi setzte sich bislang kaum für sie ein.
Als Zeichen der Annäherung erhielten Mitglieder anderer ethnischer Minderheiten wie der Karen, der Kachin und der Rakhine Sitze im neuen Parlament. Das Gleiche gilt für ein hochrangiges USDP-Mitglied. Am 3. Februar wählte das Oberhaus einen engen Verbündeten Suu Kyis zum Vorsitzenden: Mahn Win Khaing Than ist Karen und Enkel eines Ministers, der 1947 zusammen mit Suu Kyis Vater, dem ehemaligen Freiheitskämpfer und heutigen Nationalhelden Aung San, ermordet worden war.
„Suu Kyi muss ihre Macht ausweiten. Sie braucht ein gutes Verhältnis zum Militär und ein gutes Verhältnis zu den ethnischen Minderheiten“, sagt Sai Ye Kyaw Swar Myint von PACE. „Sie hat die Kraft und die Einflussmöglichkeiten, um die Grundlage zu legen – für eine dauerhafte demokratische Konsolidierung.“
Ellen Thalman