Euro-Krise
Der Abstand schwindet
Sollte der Präsident der Weltbank recht haben, so war Europas Wirtschaftsdrama im Mai nicht „Finanzkrise, Teil 2“, sondern „Herausforderung dauerhaftes Wachstum, Teil 1“. Es reiche nicht, öffentliche Schuldenberge abzubauen und auf Sparen zu setzen, schrieb Robert Zoellick in einem Gastbeitrag für die Londoner Financial Times. Die Welt und Europa müssten vielmehr „zurückfinden zu solidem Wachstum“. Sonst würden staatliche Sparprogramme noch teurer und Politik noch schwerer zu managen.
Die Weltbank rechnet mit einem Wachstum von Entwicklungsländern um etwa sechs Prozent in diesem und im nächsten Jahr – und in reichen Ländern nicht einmal mit der Hälfte. Zoellick sieht dafür mehrere Gründe. So hätten Entwicklungs- und Schwellenländer mehr Geld in die Infrastruktur investiert und wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen, vor allem im Dienstleistungssektor, reformiert.
Tatsächlich sehen die fundamentalen Daten vieler Schwellenländer heute besser aus als vor zehn Jahren. Während sich Wohlstandsländer aus der Rezession winden, scheinen sich die sogenannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) zu Motoren des globalen Wachstums zu entwickeln. Nach den Krisen der 90er Jahre und um das Jahr 2000 herum brachten viele Schwellenländer ihre Budgets mühevoll in Ordnung. Sie haben Haushaltsdisziplin praktiziert, ihre Schulden im Verhältnis zum BIP gesenkt und Wachstum angeschoben.
Laut einer Prognose des Internationalen Währungsfonds (IMF) vom April „erholt sich die Konjunktur jetzt weltweit, aber mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten – zögerlich in vielen modernen Industrieländern, kraftvoll in den meisten Schwellen- und Entwicklungsländern“. Wegen Griechenlands Schuldenkrise und der Sorge, sie könnte weitere Länder der Eurozone erfassen, flüchteten Investoren in Schwellenländer, ergänzte der IWF. Am 110 Milliarden Euro schweren EU-Hilfspaket für Griechenland ist der IWF mit 30 Milliarden Euro beteiligt; an der Zusage von 750 Milliarden Euro für künftige EU-Sicherungsmaßnahmen beteiligte sich der IWF mit 250 Milliarden Euro. Im Klartext: Als Kapitalgeber des IWF stützen nun viele Schwellenländer indirekt Europa. Der indische Ökonom Arvind Subramanian vom Peterson Institute, einer Denkfabrik in Washington, hält es für richtig, dass China, Indien, Brasilien und andere Schwellenländer angesichts ihrer ökonomischen Stärke der EU beispringen. Subramanian zufolge ist es aber „unfair und pervers“, dass „Steuerzahler viel ärmerer Länder reiche Finanzinstitute vor den Folgen unverantwortbarer Kredite schützen“. In seinen Augen sollten die Banken, die griechische Anleihen kauften, gezwungen werden, wenigstens einen Teil der Last zu tragen.
Der IWF warnt in seiner jüngsten Wirtschaftsprognose für Asien, die Liquiditäts- und Solvenzkrise in der Eurozone könne eine weltweite Schuldenkrise auslösen. Wenn sich Risikoaversion weltweit ausbreite, bringe das asiatische Banken und Konzerne in Gefahr, weil sie viel Kapital brauchten. Zu Redaktionsschluss Ende Mai schien die Griechenlandkrise allerdings eingedämmt zu sein. Eine hohe Ansteckungsgefahr besteht auch für den früheren Ostblock und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Zentralasien. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung warnte im Mai: Der Güterverkehr in die EU könne ins Stocken kommen – und die Kapitalströme in Gegenrichtung ebenso.
Die globale Krise nach der Pleite von Lehman Brothers im Jahr 2008 hätten viele Länder Afrikas südlich der Sahara relativ gut überstanden, heißt es in einem aktuellen IWF-Bericht. Der Haken bei der Sache: Arme Menschen können ökonomische Rückschläge längst nicht so gut wegstecken wie Wohlstandsbürger. Hinzu kommt: Je enger ein Land mit der Weltwirtschaft verwoben ist, desto stärker spürt es globale Turbulenzen. „Die weltweit sinkende Nachfrage drückte die Preise vieler Rohstoffexporteure, das zog auch viele Geschäfte im nichttraditionellen Export nach unten“, meint IWF-Experte John Lipsky. Im Jahr 2008 seien die Kapitalströme in Schwellen- und Entwicklungsländer „plötzlich abgerissen“, ergänzt der Erste Stellvertretende Direktor des IWF.
Die aktuelle Euroschwäche wird den Dollar als internationale Leitwährung tendenziell festigen. Eigentlich wollten Europas Politiker ihre Währung als Alternative etablieren. Die zunehmende Verunsicherung über den Euro, ja über die Zukunft der Europäischen Union insgesamt, lockte viele Anleger aber ins Ausland. Ende Mai äußerte sich Chinas staatlicher Devisenfonds (SAFE) besorgt über Euro-Anleihen. SAFE hält europäische Schuldverschreibungen im Wert von rund 630 Milliarden Euro. Chinas Führung zweifelt aber auch an der US-Währung. Die Volksrepublik hält Dollar-Wertpapiere im Wert von fast zwei Billionen Dollar. Im vergangenen Jahr schlug die chinesische Regierung vor, eine neue internationale Leitwährung einzuführen. Das zeugte von ihrer Sorge, dass ihre Währungsreserven durch Inflation und Abwertung dahinschmelzen könnten.
Trotz wachsender Zweifel an den USA und der EU setzen die meisten Anleger ihr Vertrauen immer noch eher in die Institutionen und Märkte moderner Industriestaaten. Politische Unsicherheiten in Schwellen- und Entwicklungsländern wiegen schwerer. Auch die Kaufkraft der Verbraucher hinkt dort noch weit hinterher. Bislang hing das Wachstum in Schwellenländern vor allem von Exporten ab – also von der Nachfrage reicher Länder.
Doch der Abstand zwischen den alten Wirtschaftsmächten und den aufstrebenden Riesen schwindet. Angesichts sich verschiebender Gleichgewichte fragen sich viele Experten nicht mehr, ob die Vormachtstellung von USA und Europa angegriffen wird, sondern wann und von wem. Einige sehen die BRIC-Staaten schon als Zeichen dafür, dass Wohlstand von West nach Ost abfließt. Sollten sich die USA irgendwann gezwungen sehen, ihren riesigen Verteidigungsetat zu kürzen, könnte ein neues, multipolares Machtgefüge entstehen. Irgendwann muss Washington seinen Schuldenberg tilgen: Das geschätzte US-Haushaltsdefizit von einer Billion Dollar ist ein Menetekel. (Ellen Thalman)