Arbeitsmarkt

Braindrain in Ghanas Digitalbranche

Die vergleichsweise attraktiven Jobs im ghanaischen IT-Sektor ziehen erfolgsorientierte, wechselbereite junge Leute an. Der Konkurrenzkampf um hoch qualifizierte Talente tobt nicht nur zwischen einheimischen Unternehmen, sondern zunehmend auch auf dem globalen digitalisierten Arbeitsmarkt.
Programmierer eines Logistik-Startups in der ghanaischen Hauptstadt Accra. picture-alliance/REUTERS/Francis Kokoroko Programmierer eines Logistik-Startups in der ghanaischen Hauptstadt Accra.

Die Situation auf dem ghanaischen Arbeitsmarkt ist für junge Menschen schwierig. Die globale Wirtschaftskrise hat auch vor Ghana nicht haltgemacht, die Inflationsrate des Landes lag im Sommer bei mehr als 30 Prozent. Unter den Jugendlichen sowie Universitätsabsolventinnen und -absolventen ist die Arbeitslosigkeit hoch (siehe Kasten).

Innerhalb der relativ kleinen Gruppe formell angestellter junger Menschen sehen sich viele bereits kurz nach Stellenantritt nach neuen Jobs um. Wegen der hohen Zahl von Bewerbungen auf einzelne Jobs nehmen sehr viele Personen auch Stellen an, deren Bezahlung, Tätigkeit und Arbeitsbedingungen nicht ihren Wünschen entsprechen. Die einmal erlangte Stelle wird also mitnichten als Garant für ein erfüllendes Leben und stabile Erwerbsverhältnisse wahrgenommen. Weshalb ist dies so? Mit dieser Frage setzt sich ein Forschungsprojekt auseinander, das seit Mai 2020 am Institut für Soziologie der Universität Leipzig angesiedelt ist und Fördermittel vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) erhält.

Die Dynamiken des Jobwechsels lassen sich besonders gut im Sektor der Digitaltechnologien verfolgen. Seit einigen Jahren versuchen ghanaische Firmen, das indische Erfolgsrezept des Aufbaus einer digitalen Service-Industrie zu kopieren. Eine davon, wir nennen sie aus Gründen der Anonymität „Tiger Comp“, wurde 2019 gegründet und hat Stand Herbst 2022 in Ghana und einem anderen afrikanischen Land 200 Arbeitsplätze geschaffen. Tiger Comp bietet jungen Universitätsabsolventinnen und -absolventen eine sechsmonatige Ausbildung in Bereichen wie Software-Entwicklung, Software-Testing und Datenanalyse. Im Anschluss daran sollen sie eine Anstellung erhalten und Aufträge von Firmenkunden weltweit bearbeiten.

Große Autonomie

Im August 2022 interviewten wir gut 20 Angestellte der in einer ghanaischen Mittelstadt angesiedelten Firma. Wir fragten nach ihren familiären Hintergründen, ihren Erfahrungen während Ausbildung und Jobsuche sowie ihren Wünschen und Zielen. Fast alle Befragten waren unverheiratet, Single und verfügten über große Autonomie in ihrer Lebensgestaltung. Die Unabhängigkeit von örtlichen familiären Bindungen erlaubte es ihnen, ohne große Umstände aus verschiedenen Regionen in die Mittelstadt zu wechseln. Auch während der Zeit im Unternehmen blieb diese Ungebundenheit bestehen. Dieses auf Autonomie und persönlichen Erfolg ausgerichtete Selbstverständnis fördert die positive Einstellung gegenüber einer fortgesetzten Suche nach besseren Jobs mit schnelleren Aufstiegspfaden, höheren Grundgehältern und üppigeren Boni als bei Tiger Comp. Es verstärkt auch die Bereitschaft, für den nächsten Job in die nächste Stadt zu wechseln, etwa in die beiden größten Zentren Accra und Kumasi, oder sogar ins Ausland.

Die Nachfrage nach gut ausgebildeten Fachkräften im IT-Sektor ist hoch. Tatsächlich werden Ausbildungsfirmen wie Tiger Comp teils Opfer ihres eigenen Erfolgs. Die Ausgebildeten erhalten bisweilen rasch Angebote mit dem doppelten bis dreifachen Gehalt. Die Geschäftsführung von Tiger Comp sieht daher auch das Abfischen der besten Köpfe in der Branche als tiefgreifendes Problem. Die Covid-Pandemie hat diese Tendenzen verstärkt. Unsere Forschung hat gezeigt, dass auch europäische und amerikanische Unternehmen Service-Aufträge vermehrt direkt an IT-Fachleute im globalen Süden vergeben – also nicht nur an Unternehmen wie Tiger Comp, sondern an Selbstständige, die im ghanaischen Homeoffice arbeiten.

Konkurrieren auf zwei Arbeitsmärkten

Firmen wie Tiger Comp konkurrieren somit auf zwei Arbeitsmärkten zugleich um die besten Köpfe: einerseits dem ghanaischen, andererseits dem global entgrenzten, digitalisierten. Die niedrigen Lohnkosten ghanaischer Unternehmen – eigentlich ein Standortvorteil – zeigen ihre Schattenseite: Die Firmen können die von der westlichen Konkurrenz aufgerufenen Löhne schlicht nicht zahlen. Andererseits entstehen für im Ausland angestellte ghanaische IT-Fachleute Einnahmequellen, die kollektive Entwicklungsimpulse setzen können.

Wenngleich die Angestellten von Tiger Comp immer wieder bessere Verdienstmöglichkeiten als zentrales Motiv für einen Jobwechsel nannten, spielten auch andere innerbetriebliche Faktoren eine Rolle, etwa das punktuell als negativ empfundene Betriebsklima. Gegen einen Jobwechsel spricht dagegen die Möglichkeit, Weiterbildungen finanziert zu bekommen.

Risikobereitschaft und berufliche Flexibilität sind für die IT-Beschäftigten keineswegs unbedingt Werte an sich. Sie streben eine gewisse Dauerhaftigkeit im Berufsleben an, solange sich damit andere Ziele vereinbaren lassen, etwa finanzielle Stabilität. Dazu gehört auch die Unterstützung von Verwandten, die ihrerseits beispielsweise zuvor die Studiengebühren der Befragten finanziert hatten.

Grundsätzlich sind IT-Fachleute hinsichtlich Anstellungs- und Aufstiegschancen unter Berufstätigen in Ghana privilegiert, das zeigt etwa ein Vergleich mit dem Textilsektor. In einer von uns untersuchten Textilfabrik verdienen die Beschäftigten nur einen Bruchteil der IT-Fachleute. Mit ihren am ghanaischen Mindestlohn ausgerichteten Einkünften können sie kaum die Kosten für Miete, Transport und Essen decken. Dennoch hat 2022 niemand der etwa 90 Mitarbeitenden von sich aus die Firma verlassen. Viele erzählten uns von ihrem Wunsch nach einer besser bezahlten Arbeit, die sie jedoch nicht fänden.

Marian Burchardt ist Professor am Institut für Soziologie der Universität Leipzig und Leiter des vorgestellten Forschungs­projekts.
marian.burchardt@uni-leipzig.de

Florian Stoll arbeitet als Postdoc am Institut für Soziologie/Research Center Global Dynamics der Universität Leipzig und forscht in dem beschriebenen Projekt zu Gründen für Jobwechsel in Ghana.
florian.stoll@uni-leipzig.de

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