Gender
„Es gibt keinen Friedensprozess in Afghanistan“
Als die internationalen Truppen 2001 das Taliban-Regime beendeten, war das harte Los der afghanischen Frauen eines der Argumente für eine militärische Intervention. Die Truppen der International Assistance Force ISAF werden 2014 abziehen. Seit 2001 hatte man ausreichend Zeit, um einen funktionierenden Staat zu schaffen, einen Freiraum für die Zivilgesellschaft, und um das Leben der Frauen zu verbessern. Bis jetzt hat der Westen allerdings nicht viel vorzuweisen.
Neue Statistiken zeichnen ein düsteres Bild: 85 Prozent der afghanischen Frauen sind Analphabetinnen, und 57 Prozent heiraten schon als Minderjährige. Afghanistan hat die zweithöchste Müttersterblichkeitsrate der Welt. „Der Westen will nur das Gesicht wahren und gehen, ohne zu beachten, wie die Lage wirklich aussieht. Wir müssen jetzt den Finger in die Wunde legen – 2014 ist es zu spät, um darüber zu sprechen“, sagt Jörgen Klußmann, der Anfang Dezember in Bonn eine Konferenz über Frauenrechte in Afghanistan im Auftrag der Evangelischen Akademie im Rheinland und medica mondiale organisierte.
Frauen sind für jede Art Friedensprozess wichtig. In Afghanistan nehmen sie jedoch nicht einmal am öffentlichen Leben teil. Monika Hauser, die Gründerin von medica mondiale, drückt es klar aus: „Die internationale Gemeinschaft hat die afghanischen Frauen im Stich gelassen.“ Ihre Organisation arbeitet seit 2002 in Afghanistan und bietet weiblichen Gewaltopfern medizinische Hilfe, psycho-soziale Behandlung und rechtlichen Beistand. Rückblickend, sagt Hauser, waren Frauenrechte „ein Vorwand für den Westen, um eigene Interessen in Afghanistan durchzusetzen“. Siehe auch Seitenleiste: Interview mit dem Sicherheitsjournalisten Marco Seliger.
Thomas Ruttig, Direktor des Afghanistan Analysts Network, stimmt ihr zu. Laut Statistiken der Bundesregierung ist die Gewalt gegen Frauen in Afghanistan im Jahre 2012 um 28 Prozent gestiegen. Der demokratische Prozess versandet, sagt Ruttig, und beim Rückzug der ISAF-Truppen wird sich zeigen, dass die internationale Gemeinschaft versagt hat: „Der Westen hat in erster Linie den militärischen Bereich unterstützt und kaum in die Zivilgesellschaft investiert.“ Er meint, es gebe „keinen Friedensprozess in Afghanistan“.
Gewalt gegen Frauen
„Alle 18 Sekunden wird eine Frau in Afghanistan Opfer von Gewalt“, erklärt Zarghona Ahmadzai. Die Psychologin arbeitet bei der NGO Medica/Afghanistan, die aus medica mondiale hervorgegangen ist. Sie identifiziert vier Hauptgründe für Gewalt:
- patriarchale Traditionen, wie die Ehe zwischen minderjährigen Mädchen und erwachsenen Männern,
- mangelnde Rechtsstaatlichkeit, weshalb misshandelte Frauen Rechte nicht einklagen können,
- Zerstörung sozialer Strukturen, zum Beispiel bei Vertreibung von Familien, und
- Armut und Unsicherheit.
Mehr als die Hälfte aller weiblichen Gefängnisinsassen in Afghanistan sind wegen so genannter „moralischer Vergehen“ inhaftiert, sagt Zarghona Ahmadzai. Viele sind wegen Ehebruchs angeklagt, weil sie vergewaltigt wurden. Ein weiteres ernstes Problem ist die Tradition, junge Frauen an verfeindete Stämme zu „verschenken“, um Fehden beizulegen. Zu den Folgen derartiger Gewalt gehören Depressionen und andere psychosomatische Krankheiten. Oft genug begehen junge Frauen Selbstmord.
Die Haltung der Polizei ist ebenfalls problematisch, berichtet die Anwältin Sajia Begham Amir: „Wenn eine misshandelte Frau zur Polizeistation geht, um eine Anzeige zu erstatten, sagen die Beamten oft: ,Du bist eine schlechte Frau, sonst hättest du keine Probleme zu Hause.‘“ Es gibt spezielle Trainings, um Polizisten für Frauenrechte zu sensibilisieren, aber Sajia Begham meint, dies sei nicht genug. Ihrer Meinung nach müssen afghanische Frauen – vor allem auf dem Land – wirtschaftlich unabhängig werden. Alphabetisierungskurse für Erwachsene und mehr Jobangebote würden langfristig die Lage verbessern, meint sie.
Der Status von Frauen ist ein klarer Gradmesser für die Einhaltung der Menschenrechte. 2014, wenn die ISAF-Truppen abziehen, ist es möglicherweise zu spät, etwas dafür zu tun.