Internationaler Strafgerichtshof

Frieden versus Gerechtigkeit

In Friedenszeiten gehen Frieden und Gerechtigkeit normalerweise Hand in Hand. Nach einem Konflikt geraten sie jedoch oft in ein Ungleichgewicht. Dann können Forderungen nach strafrechtlicher Verantwortlichkeit ein Hindernis für den Frieden sein.
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Peter Dejong/picture-alliance/AP Photo Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag.

Der Widerspruch zwischen Frieden und Gerechtigkeit ist in der Konfliktbearbeitung bekannt. Beim Aushandeln von Friedensabkommen geht es meist nicht nur um Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung, sondern auch um die Vergeltung grausamer Verbrechen.

Für die strafrechtliche Verantwortung internationaler Verbrechen gibt es verschiedene Optionen:

  • nationale Strafverfolgung, wenn Staaten Verstöße gegen das Völkerrecht nach innerstaatlichem Recht verfolgen,
  • hybride Gerichte aus nationalen und internationalen Gerichten, die in der Regel in dem Gerichtsbezirk aktiv werden, in dem die Verbrechen begangen wurden,
  • internationale Gerichte wie der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), dessen Auftrag darin besteht, Täter internationaler Verbrechen nach dem Völkerrecht individuell zur Verantwortung zu ziehen.

Obwohl der IStGH ein klares Mandat hat, räumt sein Gründungsdokument, das Römische Statut, der Anklageseite einen großen Ermessensspielraum ein: Sie kann sich gegen die Einleitung einer Untersuchung entscheiden, wenn sie nach Abwägung der Schwere des Verbrechens und der Interessen der Opfer befindet, dass dies nicht im Sinne der Gerechtigkeit wäre. Aber was bedeutet das für die Menschen, die mit diesen Verbrechen konfrontiert waren oder sind? Sollte dieser Absatz großzügiger ausgelegt werden, um auch die Interessen des Friedens einzubeziehen?

Nach der Präambel des Römischen Statuts darf dem Friedensprozess nicht Vorrang eingeräumt werden, wenn ein Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist, internationale Verbrechen zu untersuchen oder zu verfolgen. Denn der IStGH hat die Aufgabe, die Verfolgung „der schwersten Verbrechen, die die internationale Gemeinschaft beschäftigen“, zu gewährleisten, um „der Straflosigkeit für die Täter dieser Verbrechen ein Ende zu setzen und so zur Verhütung solcher Verbrechen beizutragen“. Würde sich das Gericht politischen Verhandlungen oder Friedensprozessen unterwerfen, würde es entgegen seiner eigenen Verpflichtung handeln – und womöglich versäumen, schwere Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.


Nicht geahndete Verbrechen

In Afghanistan ist die Frage der Gerechtigkeit und des Umgangs mit vergangenen Gräueltaten nach wie vor unbeantwortet. In dem Land herrscht seit Jahrzehnten Bürgerkrieg. Tausende von Zivilisten waren und sind Opfer grausamer Verbrechen, von denen einige in die Zuständigkeit des IStGH fallen. Laut einem Bericht der UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) vom Dezember 2019 gab es in den vergangenen zehn Jahren „mehr als 100 000 zivile Todesopfer“. In den vergangenen 40 Jahren hat die Zahl mit Sicherheit die Millionengrenze überschritten. Berichten zufolge ist sexuelle Gewalt weit verbreitet, aber aufgrund der mangelnden Dokumentation geschlechtsspezifischer und sexueller Verbrechen wurden zahlreiche Fälle nicht strafrechtlich verfolgt. Das hat eine allgegenwärtige Kultur der Leugnung gefördert.

„Frieden zuerst, Gerechtigkeit später“: Dieses Prinzip leitete bisher das Handeln der afghanischen Behörden und der internationalen Gemeinschaft. Dies ermutigte zu noch mehr Gewalt und förderte einen Zustand der Straflosigkeit. Während versucht wurde, Menschenrechtsverletzungen durch eine Übergangsjustiz aufzuarbeiten, erlebte Afghanistan weitere Konfliktzyklen. Die Bemühungen um eine nationale Strafverfolgung waren bestenfalls ineffizient. In den seltenen Fällen, in denen die afghanische Regierung tätig wurde, mangelte es den Ermittlungen an Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und ausreichenden Kapazitäten.

Im November 2017 beantragte die Chefanklägerin des IStGH bei der Vorverfahrenskammer des Gerichtshofs die Einleitung einer Untersuchung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Afghanistan. Nach dem Statut ist der IStGH für Verbrechen zuständig, die auf dem Territorium eines Mitgliedsstaates begangen wurden, unabhängig von der Nationalität der Angeklagten. Die Ermittlungen in Afghanistan richten sich auch gegen US-Staatsangehörige, insbesondere gegen die US-Streitkräfte und Mitarbeiter des Geheimdienstes CIA. Im April 2019 lehnte die Vorverfahrenskammer den Antrag der Anklage ab und entschied, dass eine Untersuchung in Afghanistan nicht im Interesse der Gerechtigkeit sei.

Es war das erste Mal, dass sich das Gericht dieses Arguments bediente. Die Vorverfahrenskammer kam zu dem Schluss, dass die Einleitung einer Untersuchung unrealistische Erwartungen bei den Opfern wecken und Ressentiments gegenüber dem Gericht verstärken würde. Sie verwies auf begrenzte Erfolgsaussichten aufgrund von Faktoren wie „Unbeständigkeit des politischen Klimas“ und der wahrscheinlich mangelnden Kooperationsbereitschaft der beteiligten Länder. Wäre dieses Argument allgemein akzeptiert, würden wohl nirgends Untersuchungen eingeleitet.

Die Anklage legte Berufung ein und hatte Erfolg: Die Berufungskammer hob die problematische Entscheidung der Vorverfahrenskammer auf und ermächtigte die Anklage, seit Mai 2003 begangene mutmaßliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Afghanistan zu untersuchen. Völkerrechtsanwälte und Menschenrechtsaktivisten begrüßten das Urteil als Hoffnungsschimmer für die Opfer des Konflikts. Das Urteil bekräftigte die wesentliche Aufgabe des Gerichtshofs, Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, auch wenn alle anderen Möglichkeiten der strafrechtlichen Verfolgung vergeblich sind.

Die Entscheidung der Berufungskammer sollte nicht als Hindernis für die laufenden innerafghanischen Friedensgespräche angesehen werden. Forderungen nach strafrechtlicher Rechenschaftspflicht sollten niemals laufende Friedensbemühungen behindern. Eine mangelnde Rechenschaftspflicht für schwere internationale Verbrechen kann die Bemühungen um Frieden erst recht nachhaltig beeinträchtigen.


Darleen Seda ist eine kenianische Rechtsanwältin, die sich auf Menschenrechte und internationales Strafrecht spezialisiert hat.
darleen.seda@gmail.com