Fachliteratur
Weite Interpretationsspielräume
[ Von Martina Sabra ]
Die vermeintliche direkte Herleitung des religiösen Rechts (Scharia) aus dem Koran und die damit einhergehende Sakralisierung des Familien- und Personenstandsrechts dient allenthalben dazu, massive rechtliche und gesellschaftliche Benachteiligungen von Frauen und Mädchen zu rechtfertigen. Das gilt zum Beispiel für das einseitige Scheidungsrecht für den Mann oder die Halbierung des Erbteils bei Frauen.
Viele diskriminierende Gesetze und Verhaltensweisen in der arabischen Welt lassen sich jedoch nicht aus dem Koran ableiten. Sie spiegeln vielmehr patriarchale Machtstrukturen wider, die mit der gesellschaftlichen Realität längst nicht mehr kompatibel sind. Verschiedene soziale Gruppen – darunter auch religiöse Frauen – stellen diese Praxis zunehmend in Frage.
Um die Wirkung und Nachhaltigkeit von Projekten zur Stärkung von Frauenrechten in arabischen Ländern zu sichern, sind fundierte Informationen über die Geschichte sowie die Entwicklungs- und Wirkungspotentiale des islamischen Rechts notwendig. Eine sehr gut verständliche, klar strukturierte und detaillierte Einführung in die Thematik bietet das 2008 erschienene Standardwerk „Das Islamische Recht in Geschichte und Gegenwart“ von Mathias Rohe.
Was versteht man unter „Scharia“? Was bedeutet „Fatwa“? Kann es im Islam eine Gleichberechtigung der Geschlechter geben? Mathias Rohe diskutiert diese und andere Fragen mit detaillierten Verweisen auf die Quellen des islamischen Rechts. Dazu zählt neben dem Koran auch die Sunna, das Korpus überlieferter Informationen über den Propheten Muhammad, den die Muslime als Vorbild für eine gottgerechte, ethische Lebensführung betrachten.
Rohe, der an der Universität Erlangen eine Professur für islamisches Recht innehat, beschreibt zunächst die wichtigsten Etappen der Entstehung des islamischen Rechts und die Entwicklung der verschiedenen Rechtsschulen im Mittelalter. Er berücksichtigt die unterschiedlichen Entwicklungen im sunnitischen und schiitischen Islam. Dabei wird deutlich, in welch hohem Maß das islamische Recht über Jahrhunderte zivilisationsbildend gewirkt hat.
Im zweiten Teil des Buches schildert Rohe ausführlich die Entwicklung des islamischen Familien- und Personenstandsrechts in der Moderne. Er zeigt, dass das islamische Recht in seiner Geschichte nie statisch war, sondern immer wieder mit nichtreligiösen, universalen Wertesystemen interagierte.
Im dritten Teil schließlich geht Rohe auf die sich wandelnden Konzepte von Scharia vor dem Hintergrund der Globalisierung und verstärkter weltweiter Migration ein. Dabei lautet sein Fazit, dass das islamische Personenstands- und Familienrecht zwar weite Interpretationsspielräume zulasse, eine Vereinbarkeit mit universalen Menschenrechtsvorstellungen jedoch letztlich nicht gegeben sei. Rohe sieht deshalb die islamischen Theologen in der Pflicht. Ihnen und muslimischen Religionspädagogen komme eine wichtige Rolle zu, wenn es darum geht, islamisch-religiöse Identität mit den Prinzipien von Rechtsstaat, Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter zu vereinbaren.
Geschichte der Scharia
Das Buch von Rohe ist voll spannender Informationen, aber keine Lektüre für den Nachttisch, sondern eher ein Nachschlagewerk. Wer dagegen einen lockeren, aber dennoch anspruchsvollen Einstieg ins Thema sucht, sollte sich das INAMO-Heft Nr. 57/2009 besorgen, das sich schwerpunktmäßig mit aktuellen Diskussionen über Geschichte und Gegenwart der Scharia befasst. Das Heft enthält Beiträge über die Grundlagen islamischen Rechts sowie zum islamischen Familien- und Personenstandsrecht in Afghanistan und Ägypten.
Auch die vom Goethe-Institut herausgegebene und von der Bundesregierung finanzierte Kulturzeitschrift Fikrun Wa Fann („Kunst und Denken“) hat sich unlängst dem Thema genähert. Die Zeitschrift erscheint auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Persisch. Unter dem Titel „Scharia, Recht und Gesetz“ sind in der ersten Halbjahresausgabe 2009 verschiedene Artikel zu Grundlagen der Debatte versammelt. Interessierte finden unter anderem einen Artikel des Freiburger Islamwissenschaftlers Ahmed Poya, der die geschichtliche Bedingtheit und Wandelbarkeit des islamischen Rechts beschreibt. Poya fordert, die islamische Tradition des Idschtihad – also der zeitgemäßen Interpretation der als göttlich betrachteten Texte – mit neuem Leben zu erfüllen.
Wer sich über einzelne Fragen des Familienrechts (insbesondere über das Eherecht) länderübergreifend informieren möchte, findet in einer dreiteiligen Veröffentlichungsreihe der GTZ viele interessante Informationen und Literaturhinweise. Der erste Band der Serie schildert länderübergreifend die unterschiedlichen Ausformungen des islamischen Rechts am Beispiel des Heirats- und Scheidungsrechts in Ägypten und im Jemen. Im zweiten Band geht es um das komplexe Verhältnis von kodifiziertem Recht, Gewohnheitsrecht und alltäglicher Praxis. Der dritte Band versammelt best practices und Strategien, die dazu führen sollen, dass arabische Frauen die ihnen gewährten oder bereits erkämpften Rechte auch tatsächlich wahrnehmen können.
Die Broschüren stehen als download auf Deutsch und Englisch – die dritte auch auf Französisch und demnächst sogar Arabisch – im Internet bereit. Sie können als Printprodukt auch bei der GTZ in Eschborn angefordert werden (Kontakt: bushra.barakat@gtz.de).
Eines der spannendsten Projekte im Bereich des islamischen Familienrechts in der arabischen Welt war in den vergangenen Jahren das „partizipative Monitoring“ der Reform des ägyptischen Scheidungsrechts. Dabei wurden relevante Personen aus staatlichen Institutionen, nichtstaatlichen Organisationen und Justiz fortgebildet und an einen Tisch gebracht, um die Wirkungen frauenrelevanter Gesetzesreformen auszuwerten. Die GTZ hat im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) diesen Prozess gemeinsam mit der ägyptischen Frauenorganisation ADEW und anderen Organisationen initiiert, aktiv begleitet und eine Veröffentlichung zum Thema in arabischer Sprache unterstützt (Badr et al., 2006).
Die umfassendste Reform des Familienrechts in einem einzelnen Land der MENA-Region wurde im Jahr 2004 in Marokko verabschiedet. König Mohammed VI. spürte den Druck zahlreicher Frauen- und Menschenrechtsorganisationen im In- und Ausland. Mit dem Ziel, Marokko fester an Europa und die USA zu binden, ließ er in Abstimmung mit einem Expertengremium zahlreiche frauenfeindliche Passagen aus dem Gesetz streichen. Außerdem wurde die gerichtliche Ehescheidung eingeführt. Eine höchst erhellende Analyse der Entstehungsbedingungen und der Perspektiven dieser Reform hat der Juraprofessor Hans-Georg Ebert in der Zeitschrift „Orient“ veröffentlicht.
Politische Stiftungen
Dass Debatten über das Familienrecht in arabischen Ländern ein ausgeprägtes Mobilisierungspotential besitzen und sich Fundamentalisten das Thema zu eigen machen, beunruhigt die parteinahen politischen Stiftungen aus Deutschland. Die Friedrich-Ebert-Stiftung in Marokko gab mit Blick auf erwartete Schwierigkeiten bei der Umsetzung des neuen Familienrechtes mehrere Studien zur Wahrnehmung und Akzeptanz der Reform bei der marokkanischen Bevölkerung in Auftrag. Die Schlussfolgerungen der Studien können für andere islamisch geprägte Ländern fruchtbar sein. Anfang 2007 wurden die Ergebnisse der Studien auf Französisch in einem Sammelband veröffentlicht, der als online-Download bereit steht oder in Rabat bestellt werden kann.
Darüber hinaus hat die Ebert-Stiftung bereits in den 1990er Jahren das Collectif 95 Maghreb Egalité unterstützt. Diese Initiative entstand im Vorfeld der Weltfrauenkonferenz in Peking. Sie setzt sich grenzübergreifend für die Modernisierung der Familienrechts-Gesetzgebungen ein. Unter anderem produzierte das Collectif eine vergleichende Darstellung der wichtigsten Familien- und Personenstandsrechtsgesetze in Marokko, Algerien und Tunesien, die für die Reformen in Marokko wichtige Anregungen gaben. Sie ist seit 2006 im Netz auf Englisch und seit 2007 auf Persisch verfügbar.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat 2008 eine Konferenzdokumentation zum Thema „Islam and the Rule of Law – Between Sharia and Secularization“ veröffentlicht. Sie enthält neben mehreren exzellenten theoretischen Aufsätzen einen sehr aufschlussreichen Beitrag der malaysischen Soziologin und Frauenrechtsaktivistin Norani Othman. Die Soziologieprofessorin und Mitbegründerin der Frauenrechtsorganisation „Sisters in Islam“ schildert die Ursprünge und die Entwicklung des islamischen Familienrechts in Malaysia vor dem Hintergrund der zunehmenden Islamisierung bedeutender politischer Akteure. Sie äußert große Besorgnis, dass die immer striktere Auslegung des Personenstands- und Familienrechts in Malaysia mit einer noch weiter gehenden Einschränkung bürgerlicher Freiheiten einhergehen wird. Daneben hat die KAS im Jahr 2009 auch in Ägypten mehrere Seminare zum Familienrecht und Erbrecht veranstaltet, die ebenfalls gut im Netz dokumentiert sind (Soleimankehl, 2009).
Die Heinrich-Böll-Stiftung hat eine ausgezeichnete Studie zur Familienrechtsdebatte im Irak vorgelegt (Autorin: Layla Al-Zubaidi, Büroleiterin der HBS Beirut). Die Studie macht deutlich, dass sich an einschlägigen Reformen auch messen lässt, ob die Abkehr von autoritärer Herrschaft gelungen ist. Das Urteil fällt eher skeptisch aus.
Wer sich für die Ausgestaltung des islamischen Familien- und Personenstandsrechts in verschiedenen islamisch geprägten Ländern interessiert, sollte regelmäßig auf die Internetseiten des Max-Planck-Institutes (MPI) für Internationales Privatrecht in Hamburg schauen: Dort läuft von 2009 bis 2014 eine vergleichende Forschung zum Familien- und Erbrecht in islamischen Ländern. Bereits im Jahr 2005 gab das MPI Hamburg eine Feldforschung zu Familienstrukturen und Familienrecht in Afghanistan in Auftrag. Der Bericht über die Untersuchung kann in englischer Sprache unter dem Titel „Family Structures and Family Law in Afghanistan“ auf den Internetseiten des MPI Hamburg abgerufen werden.