Staatenlosigkeit

Ohne Rechte

In Thailand leben Schätzungen zufolge mehr als eine Million Menschen ohne Staatsbürgerschaft. Die meisten gehören ethni­schen Minderheiten an. Sie sind von grundlegenden Rechten ausgeschlossen. Plan International hilft den Staatenlosen auf dem Weg in die Legalität.
Buya und Armer Mayer hoffen, bald ihren thailändischen Pass zu bekommen. Dombrowski Buya und Armer Mayer hoffen, bald ihren thailändischen Pass zu bekommen.

Die DNA-Analyse müsste abgeschlossen sein, aber im Krankenhaus geht niemand ans Telefon. Es ist Mittagspause. Buya und Armer Mayer erwarten das Ergebnis mit Spannung: Wenn es positiv ausfällt, wird es ihr Leben verändern. Buya, 14, und Armer, 19, sind in Thailand geboren, besitzen aber keine Staatsbürgerschaft. Ihre bereits verstorbenen Eltern waren ebenso staatenlos und haben die Geburt ihrer Kinder auch nicht behördlich gemeldet. Nun soll ein DNA-Test die Verwandtschaft der beiden Waisenmädchen mit ihrer Tante beweisen, die Staatsbürgerin mit allen Rechten ist. Das würde ihnen endlich den ersehnten Identitätsnachweis verschaffen. „Ich freue mich am meisten darauf, überall hinfahren zu können, ohne Angst vor der Polizei zu haben“, sagt Armer. „Der Personalausweis wird uns Freiheit geben.“

Als Illegale im eigenen Land können Buya und Armer jederzeit von der Polizei aufgegriffen werden. Die Gefahr, dass das passiert, ist groß: Dort, wo sie leben, im nördlichsten Zipfel der Provinz Chiang Mai an der Grenze zu Myanmar, gibt es viele Checkpoints und Kontrollen. Die Gegend liegt an einer der Hauptdrogenhandelsrouten der Welt; das Goldene Dreieck, das zweitgrößte Schlafmohnanbaugebiet nach Afghanistan, ist keine hundert Kilometer weit entfernt.

Buya und Armer gehören der ethnischen Minderheit der Akha an. In Nord- und Westthailand leben schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen, die zwanzig verschiedenen ethnischen Gruppen angehören. Diese auch als Bergvölker bezeichneten Gruppen haben jeweils eine eigene Sprache und Kultur. Nach Angaben der Kinderhilfsorganisation Plan International haben 37 Prozent dieser Menschen keine Staatsangehörigkeit und sind damit von grundlegenden Rechten ausgeschlossen wie dem Grundrecht auf Gleichheit und dem Menschenrecht auf eine Staatsangehörigkeit. Das bedeutet, sie dürfen nicht offiziell arbeiten, nicht frei reisen und nicht wählen. Sie können nicht staatlich heiraten und die meisten Sozialleistungen nicht beziehen.

Offiziell sind in Thailand rund eine halbe Million Menschen staatenlos. Plan schätzt die tatsächliche Anzahl doppelt so hoch ein. Die meisten von ihnen sind Kinder. Außer den Bergvölkern betrifft das als zweite große Gruppe Flüchtlinge und Migranten aus Myanmar sowie die Moken, die als Seenomaden in der Andamanensee an Thailands Westküste leben. Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR sind weltweit zwölf Millionen Menschen von Staatenlosigkeit betroffen. Thailand gehört zu den Ländern mit der höchsten Anzahl.

Armer und Buya sind die Ersten in ihrer Familie, die zur Schule gehen und Thailändisch gelernt haben. „Das macht mich sehr stolz“, sagt die Neuntklässlerin Armer, die im Alter von zehn Jahren in die erste Klasse kam. Der ältere Bruder der Geschwister ist 25 Jahre alt und hat keine Schulbildung. Er arbeitet als Masseur in der 200 Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Chiang Mai. „Er schickt uns regelmäßig Geld, damit wir lernen können“, erklärt Buya, die in die achte Klasse geht. „Dafür bin ich ihm sehr dankbar.“ Für viel reicht das Geld jedoch nicht. Den DNA-Test, der nötig ist, um Buyas und Armers Herkunft nachzuweisen, können sie nicht bezahlen. Er kostet für beide Mädchen zusammen rund 227 Euro. In solchen Fällen übernimmt Plan International die Kosten. „Ein DNA-Test ist das letzte Mittel der Wahl“, erklärt Summit Wophapho, der bei der Hilfsorganisation das Programm zur Geburtenregistrierung koordiniert. Das Programm hat die behördliche Erfassung aller Neugeborenen zum Ziel. Es kümmert sich aber auch um die nachträgliche Meldung vieler Kinder und Erwachsener, bei denen das versäumt wurde.

Oft genügt dafür, dass verschiedene Dokumente vorgelegt werden und Zeugen bestätigen, dass der Antragsteller in Thailand geboren ist oder schon lange dort lebt. So geschieht es auch bei Meethor Arjee, deren Antrag Summit von Plan gerade vorbereitet hat. Meethor ist ebenfalls Akha und wohnt wie Buya und Armer in dem Dorf Baan Pa Deang im Distrikt Mae Ai. „Für Meethor ist es auch deshalb einfacher, die thailändische Staatsbürgerschaft zu bekommen, weil sie vor 1992 geboren ist“, sagt Summit. Gemäß der Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes von 2008 kann jeder, der vor 1992 geboren ist, Thailänder werden – unabhängig vom Status der Eltern. Für nach 1992 Geborene ist es schwieriger und je nach Situation verschieden. In Thailand geboren zu sein reicht für die Staatsbürgerschaft nicht aus.

Meethor ist 28 Jahre alt und nie zur Schule gegangen. Da sie keine Ausbildung hat und als Staatenlose auch kein Land besitzen darf, kann sie sich nur als Tagelöhnerin auf den Feldern anderer verdingen. „Für acht Stunden Arbeit bekomme ich 200 Baht“, erzählt sie. Das sind 4,50 Euro. Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei 300 Baht am Tag. Doch Meethor ist faktisch rechtlos und kann selbst diese geringe Summe nicht einfordern.


Sklaverei und Prostitution

Weil Staatenlose nicht legal arbeiten können und fast alle Familien von der Hand in den Mund leben, landen viele Mädchen in der Prostitution. Die UNESCO hat die fehlende Staatsbürgerschaft als Hauptrisikofaktor identifiziert, Opfer von Menschenhandel und Ausbeutung zu werden. „Die Karaokebars und Massagesalons sind voller staatenloser Mädchen“, bestätigt Summit. Recherchen von Plan haben zahlreiche Menschenrechtsverletzungen offengelegt. Unter anderem würden Kinder als Arbeitssklaven und Prostituierte missbraucht, sowohl innerhalb Thailands als auch im Ausland.

Kinder, von denen der Staat nichts weiß, kann er nicht schützen. Jaka Janoo vom Volk der Lahu ist von Geburt an gehörlos. Sein Dorf Baan Na Ma-eurn liegt weit abgelegen in den Bergen an der Grenze zu Myanmar. Der 28-Jährige ist noch nie von einem Arzt untersucht worden, hat keinerlei Bildung erhalten und keine Gebärdensprache erlernt. Von Kindheit an hilft Jaka seiner Mutter bei der Feldarbeit. Seine Kommunikation ist auf die Mitteilung von Grundbedürfnissen beschränkt. Die Umgebung seines Dorfes hat Jaka erst ein Mal verlassen, um mit seinem 24-jährigen Bruder Arun in die zwei Stunden entfernte Distrikthauptstadt Fang zu fahren. Er wurde jedoch von der Polizei zurückgeschickt, bevor er sein Ziel erreicht hatte.

Jaka hat nun mit Hilfe von Plan die Staatsbürgerschaft beantragt. Er weiß, dass er mit dem Ausweis keine Angst mehr vor der Polizei haben muss. Was er bislang nicht weiß, da keiner es ihm mitteilen kann, ist, dass er auch eine Krankenversicherung erhalten wird und eine staatliche Unterstützung in Höhe von 1200 Baht im Monat aufgrund seiner Behinderung. Diese 27 Euro werden für seine Familie, die manchmal nicht genug zu essen hat, einen Unterschied machen: „Das Geld reicht für Jaka zum Leben“, sagt Arun, der als Einziger zur Schule gegangen ist, Thailändisch spricht und durch Heirat in den Besitz eines Reisfeldes gekommen ist.

In Baan Na Ma-eurn wird leicht verständlich, warum viele Angehörige der Bergvölker keine Staatsbürgerschaft beantragen, obwohl sie das Recht dazu haben. Die Hürden sind zahlreich: Die Menschen kennen ihre Rechte nicht, sie sind Analphabeten, können kein Thailändisch sprechen und sind von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen. Zudem ist die Distriktbehörde weit entfernt, der Weg dorthin beschwerlich und mit Kosten verbunden. Summit von Plan berichtet außerdem von Korruption und Diskriminierung. „Die Gesetzgebung in Thailand ist gut“, sagt er. „Das Problem ist die Implementierung vor Ort.“

Dass es sich lohnt, den mühsamen und oft Jahre dauernden Weg zum Personalausweis auf sich zu nehmen, kann Noi Layoi bestätigen. Die 21-Jährige vom Volk der Palaung lebt in Baan Suan Cha im Distrikt Fang. In dem 108 Haushalte zählenden Dorf sind etwa siebzig Prozent der Einwohner staatenlos. Die Älteren kamen vor mehreren Jahrzehnten zu Fuß über die Berge aus Myanmar, von wo sie vor gewaltsamen Konflikten und schlechten Lebensbedingungen flüchteten.

Noi gehört zu den insgesamt fast 6000 zumeist jungen Menschen, die bisher mit Hilfe von Plan die thailändische Staatsangehörigkeit erhalten haben. „Mein Lohn hat sich seitdem verdoppelt“, erzählt sie. Zuvor habe sie auf Maisfeldern oder in Orangenplantagen 4000 bis 5000 Baht im Monat verdient. Als Angestellte einer Fabrik für Dosenmais komme sie jetzt mit Überstunden auf bis zu 10 000 Baht, 227 Euro. Davon kann Noi, die geschieden ist und bei ihren Eltern lebt, nicht nur sich selbst ernähren, sondern auch ihre siebenjährige Tochter Janyaporn zur Schule schicken. Ihr großer Wunsch: „Janyaporn soll einmal Ärztin werden und anderen helfen.“ Noi selbst hat die Schule nur bis zur dritten Klasse besucht, danach musste sie Geld verdienen.

Bildung, vor allem für Mädchen, hat für Maja Cubarrubia Priorität: „Mit dem Erwerb der Staatsbürgerschaft ist es nicht getan“, sagt die Landesdirektorin von Plan International in Thailand. „Wir müssen zusehen, dass wir die jungen Leute qualifizieren.“ Zusammen mit möglichen Arbeit­gebern, etwa Hotels, verhelfe ihre Organisation auch Schulabbrechern zu einer Ausbildung, die ihnen Arbeitsmöglichkeiten verschafft. Für mittellose junge Frauen, die die zwölfjährige Schullaufbahn abgeschlossen haben, stellt Plan sogar Universitätsstipendien zur Verfügung. Vierzig Angehörige der Bergvölker studieren bereits auf diese Weise; 500 sollen es werden. „Jedes Mädchen, das durch gute Bildung später heiratet, weniger Kinder bekommt und kein Opfer von Menschenhandel wird, ist ein Erfolg“, sagt Maja Cubarrubia.

Buya und Armer haben das Ergebnis ihres DNA-Tests inzwischen erhalten. Die Verwandtschaft zur Tante ist bewiesen. Als Nächstes werden die Schwestern einen Antrag auf die thailändische Staatsbürgerschaft stellen. Für ihre Zukunft sieht es gut aus.
 

Katja Dombrowski ist freie Journalistin und lebt in Bangkok.
kd@katja-dombrowski.info