Interview mit John M. Powell, UN-…
„Es gibt keine Überschüsse“
In den vergangenen 40 Jahren ist der Anteil der Nahrungsmittelhilfe an der internationalen Entwicklungshilfe kontinuierlich gesunken. Dennoch bleibt sie eine der kontroversesten Formen von Entwicklungshilfe. Woran liegt das?
Vermutlich daran, dass sie ihren Ursprung im Abbau von Überschüssen hat. Die Welt hat sich seither fundamental verändert. Einige der am stärksten umstrittenen Formen von Nahrungsmittelhilfe gibt es heute kaum noch oder aber ihr Anteil geht stark zurück. Ein Beispiel ist Programmhilfe, die an Regierungen geliefert wird und hauptsächlich die Zahlungsbilanz stärken soll. Sie macht heute – anders als noch vor zehn Jahren – nur noch ein Bruchteil aus. Heute ist Nahrungsmittelhilfe überwiegend Nothilfe. Aber die Debatte dreht sich häufig noch um alte Zahlen und überholte Alternativen.
Welche Fragen müssen heute diskutiert werden?
Vor allem müssen wir die eher sterile und stereotype Debatte über Geldtransfers versus Nahrungsmittellieferungen hinter uns lassen. Die Frage ist, was hungrige Menschen brauchen. Sehr oft ist die Antwort: nährstoffreiche Nahrungsmittelhilfe. Und die kann auf verschiedene Weise geleistet werden: durch Lieferungen, die in Übersee, lokal oder regional eingekauft werden, oder aber durch Geld, Essensmarken, Gutscheine und bald vermutlich auch durch Chipkarten. Wir müssen uns stärker darauf konzentrieren, wer die Hungernden sind, welche Hilfe sie brauchen und wie wir sie am besten leisten.
Manche Experten sagen, Geldüberweisungen seien meistens sinnvoller als Warenlieferungen und sollten daher generell bevorzugt werden. Sehen Sie das auch so?
Die Wahrheit ist, dass wir von beidem nicht genug haben. Es gibt weder genug Geld noch genug Nahrungsmittellieferungen. Es wird über Alternativen diskutiert, obwohl wir beides brauchen. Wir sollten lieber über etwas viel Wichtigeres sprechen: Timing. Denken Sie beispielsweise an Sudan. Bis Juni müssen wir 75 Prozent unserer Lieferungen in die entlegenen und schwer erreichbaren Gegenden dort gebracht haben, vor allem in Darfur. Denn dann kommt der Regen und die Chance ist dahin. Schaffen wir das nicht, bleibt nur noch die teure Versorgung aus der Luft. Das Timing ist viel wichtiger als die Frage, ob Nahrungsmittel lokal, regional oder international gekauft werden.
Aber sind lokal oder regional erworbene Lieferungen nicht schneller verfügbar als Schiffsladungen aus Übersee?
Die kurze Antwort ist: Meistens ja. Darum befürwortet das WFP lokale und regionale Käufe, vorausgesetzt wir haben rechtzeitig genug Geld zur Verfügung, um so zu kaufen, dass es den Märkten nützt und nicht schadet. Es gibt noch andere Möglichkeiten, schnell zu reagieren, beispielsweise durch die Einrichtung von Nahrungsmitteldepots oder durch das Anzapfen nationaler Vorräte, die dann wieder aufgefüllt werden, wenn die Überseelieferungen ankommen. Das WFP ist offen für unterschiedliche Wege, die richtige Nahrung zum richtigen Zeitpunkt zu den Betroffenen zu bringen.
Es heißt, der Erwerb von Hilfsgütern im betroffenen Land oder in der Region verzerre die lokalen Märkte normalerweise weniger stark als Importe. Was ist Ihre Erfahrung?
Wie gesagt, wir befürworten den Einkauf vor Ort. Aber der Zeitpunkt muss vorsichtig gewählt sein, denn größere Käufe können Preissteigerungen auslösen mit dem Ergebnis, dass sich noch weniger Menschen Nahrungsmittel leisten können. Ob wir Nahrung nun importieren oder lokal kaufen: Wir müssen immer auf mögliche Folgen achten. Wir müssen uns auf die Märkte einstellen, so dass ihr Wachstum und ihre Entwicklung gefördert werden.
Einige große Geber – allen voran die USA – verschiffen immer noch ihre Überschüsse, anstatt Geld zu geben oder Nahrungsmittel lokal oder regional zu kaufen. Sollten diese Länder ihre Politik überdenken?
Es gab einen klaren Konsens auf der Berliner Konferenz, dass wir die Diskussionen über Nahrungsmittelhilfe von altem Ballast befreien müssen. Und eine der Veränderungen ist, dass wir heute in einer Zeit ohne Überschüsse leben. Es gibt keine Überschüsse mehr. Warum? Erstens weil die Nachfrage nach Nahrung dramatisch hoch ist, vor allem in Asien und dort hauptsächlich in China. Das zeigt sich beispielsweise in den stark gestiegenen Preisen für Weizen und Mais. Zweitens stehen wir an einer historischen Schwelle in der Landwirtschaft: vom Nahrungsanbau hin zum Anbau von Rohstoffen für Biotreibstoff. Der Wettbewerb zwischen beiden wird noch zunehmen. Drittens zeichnet sich bereits ab, dass Klimawandel und zunehmende Naturkatastrophen den Anbau von Nahrungsmitteln künftig erschweren werden. Kurz: Es gibt keine Überschüsse mehr.
Die US-amerikanische Praxis ist Ihrer Ansicht nach also kein Problem?
Ich sage nur, dass die USA es vorziehen, die Nahrungsmittel zuhause einzukaufen anstatt auf internationalen Märkten oder in den Entwicklungsländern. Das ist ihre Entscheidung.
Die Bush-Regierung hat dem Kongress vorgeschlagen, die Lieferbindung für US-Nahrungsmittelhilfe zu lockern. Ziel ist, die Hilfe effizienter zu gestalten und schneller reagieren zu können. Unterstützen Sie diesen Vorschlag?
Ja. Tatsächlich würden wir gerne sehen, dass die USA zusätzliche Mittel für lokale und regionale Beschaffung gewähren. Denn wenn man nicht genug hat, dann braucht man von allem mehr und muss das, was man hat, besser nutzen.
Statistiken zeigen, dass Nahrungsmittelhilfe großenteils angebotsorientiert ist, nicht nachfrageorientiert. Die Lieferungen nehmen zu, wenn die Weltmarktpreise sinken, aber nicht unbedingt, wenn Hilfe dringend gebraucht wird. Spüren Sie das in der Arbeit des WFP?
Natürlich ist richtig, dass die Geber in Zeiten hoher Preise weniger Nahrungsmittel kaufen können, wenn ihre Budgets auf bestimmte Dollar- oder Eurobeträge fixiert sind. Das ist aber nicht die alte Debatte darüber, ob das Angebot oder die Nachfrage die Hilfe steuert. Es bedeutet einfach, dass die Geber mehr zahlen müssen, um in Zeiten hoher Preise den Bedürftigen zu helfen. Wir haben den Eindruck, den Gebern ist klar, dass derzeit nicht nur die Preise für Nahrungsmittel steigen, sondern auch die für Treibstoffe. Es wird immer teurer, die Empfänger zu erreichen, egal wo sie sich befinden. Viele Geber wenden sich deshalb an ihre Parlamente, um zusätzliche Gelder zu mobilisieren – und dafür sind wir sehr dankbar.
Aber zeigen diese Angebotsschwankungen nicht auch, dass Nahrungsmittelhilfe als Instrument zur Entsorgung von Überschüssen genutzt wird?
Wie gesagt, wir waren uns in Berlin einig, dass es keine Überschüsse mehr gibt. Eher stehen wir vor dem Problem stark gestiegener Preise und einer wachsenden Zahl von Menschen, die Nahrungsmittelhilfe benötigen. Wir werden wahrscheinlich mehr dafür bezahlen müssen, die gleiche Menge an Nahrung zu den Empfängern zu bringen, weil sowohl Nahrungsmittel als auch Treibstoffe teurer geworden sind.
Die Food Aid Convention wird demnächst überarbeitet. Welche Art Abkommen für internationale Nahrungsmittelhilfe brauchen wir?
Als erstes müssen wir akzeptieren, dass wir in einer Zeit ohne Überflüsse leben. Die aktuelle Konvention spiegelt weder die Realität hoher Kosten für Nahrung und Treibstoff noch die Aussicht, dass das Angebot vorerst knapp bleiben wird. Zweitens müssen wir die Bedürftigen in den Mittelpunkt stellen, nicht das Instrument Nahrungsmittelhilfe. Beispielsweise verdient der Nährwertbedarf viel größere Beachtung. Als die FAC zuletzt 1999 aktualisiert wurde, konzentrierten die Verhandlungspartner sich auf den Punkt Ernährungssicherheit. Zwar besteht das Problem fort, dass in vielen Ländern Nahrung fehlt. Aber zusätzlich gibt es eine Art versteckte Hungerkrise, ausgelöst durch Vitamin- und Mineralstoffmangel. Eine Konvention, die Ernährungssicherung und Nährwertversorgung im Blick hätte, würde auch die Anreicherung von Lebensmitteln mit Mineralstoffen und Vitaminen behandeln. Die aktuelle Konvention leistet das nicht. Drittens darf ein überarbeitetes Abkommen nicht nur bindende Zusagen für Nahrungsmittellieferungen enthalten. Auch der Umgang mit Transportkosten muss geregelt werden. Andernfalls riskieren wir, dass die Hilfe vor allem an jene Bedürftigen geht, die am besten erreichbar sind, und nicht an die, die sie am dringendsten brauchen. Wir brauchen eine Konvention für das 21. Jahrhundert; was wir haben, ist eine für das letzte Jahrtausend. Das derzeitige Abkommen basiert auf veralteten Daten und überholten Debatten.
Die Fragen stellte Tillmann Elliesen.