Kommentar
Der Chavismus kämpft ums Überleben
Die gefallenen Ölpreise haben Venezuela in den vergangenen Monaten rund ein Drittel seiner Staatseinnahmen gekostet. Das Land ist in hohem Maße vom Öl abhängig. Unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez von 1999 bis 2013 hat diese Abhängigkeit weiter zugenommen. Preiskontrollen, Enteignungen und Gewinnbegrenzungen haben die Produktion von Gütern unrentabel gemacht und eine starke Importabhängigkeit geschaffen.
Der Staat hat mit zunehmender Verschuldung auf die Wirtschaftskrise reagiert. Die Inflationsrate ist 2014 auf 68,5 Prozent angestiegen und war damit die höchste der Welt. Infolge des Devisenmangels erreicht die Lebensmittelknappheit ungekannte Ausmaße. In der zweiten Jahreshälfte 2015 müssen circa 10 Milliarden Dollar an Staatsschulden getilgt werden. Ohne strukturelle Veränderungen im Staatshaushalt wird ein Zahlungsausfall 2016/17 immer unvermeidlicher.
Die Anzahl kritischer Stimmen wächst zunehmend auch im Regierungslager. Zwischen der Führung und kritischen Teilen der Basis hat ein Kampf um den Anspruch auf das wahre Erbe von Hugo Chávez begonnen. Der charismatische Expräsident hat für große Teile der Bevölkerung eine quasi-religiöse Bedeutung. Vielen Menschen, die Zeit ihres Leben marginalisiert waren, hat er die Aussicht auf ein besseres Leben vermittelt. Im Chavismus drückt sich die Zugehörigkeit zu einem historisch einzigartigen Prozess einer gefühlten Revolution aus. Chávez prägt auch nach seinem Tod noch die Ideale seiner Anhänger.
Der Sozialismus als Wirtschaftsmodell erscheint allerdings nicht als charakteristisches Prinzip der Bewegung. Übersteigerter Konsum ist ein Grundelement des venezolanischen Lebensstils. Sprudelnde Öleinnahmen und Geldentwertungen durch Inflation haben diese Mentalität über Jahrzehnte hinweg verstetigt. Die Armen kämpfen nicht gegen, sondern um das Kapital.
Ende 2015 werden in Venezuela voraussichtlich Parlamentswahlen stattfinden. Präsident Maduro gelingt es immer weniger, Chávez’ Erbe glaubhaft für sich in Anspruch zu nehmen. Sein Rückhalt in der Bevölkerung sinkt. Daraus lässt sich aber nicht automatisch eine steigende Zustimmung für die fragmentierte Opposition ableiten. Eine Mehrheit ist derzeit einzig in den sogenannten „Ninis“ erkennbar, die weder Regierung noch Opposition anhängen (ni gobierno, ni oposición: weder Regierung noch Opposition). In Anbetracht der Krise dürften viele Bürger nicht wählen gehen, was sowohl Regierung als auch Opposition schaden könnte.
Die regierende PSUV wird sich ihrer Basis öffnen und auf breite Beteiligung von unten setzen müssen. Für das Oppositionsbündnis MUD wird ein Erfolg auch durch den Zuschnitt der Wahlkreise erschwert, der die Mandatsvergabe bestimmt. Selbst eine knappe Mehrheit an Wählerstimmen würde nicht zwangsläufig zur Mehrheit von Parlamentsmandaten führen. Und die Regierung wird sicher alle verfügbaren Mittel einsetzen, um einen eindeutigen Sieg der Opposition zu verhindern.
Unabhängig vom Ausgang der Parlamentswahlen steht Präsident Maduro vor der Herausforderung, mit der zunehmend schwierigen wirtschaftlichen Lage umgehen zu müssen. Alle ökonomischen Daten deuten darauf hin, dass die derzeitige Situation nicht mehr haltbar ist. Dennoch ist keinerlei Bereitschaft Maduros erkennbar, sich auf das Risiko eines wirtschaftsstrukturellen Reformkurses einzulassen.
Der Chavismus hat allerdings unabhängig von der gegenwärtigen Performance der Regierung mittelfristig ein nicht zu unterschätzendes politisches Potenzial und wird nicht so einfach verschwinden, wie Teile der Opposition es sich ausmalen. Es könnte daher auf die Basis des Chavismus ankommen, in welcher politischen Konstellation und mit welchen wirtschaftspolitischen Elementen der unausweichliche ökonomische Anpassungsprozess in Venezuela vollzogen wird.
Benjamin Reichenbach ist Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Venezuela.
benjamin.reichenbach@fes.de
Link:
Die Friedrich-Ebert-Stiftung in Venezuela:
http://www.fes.de/lateinamerika/in_la/ven_2.htm