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Postfaktische Politik

Depressionen und Angstzustände auf den Philippinen

Viele Menschen auf den Philippinen hofften, eine Niederlage von Ferdinand „Bongbong“ Marcos Jr. bei den Präsidentschaftswahlen 2022 würde den langen politischen Albtraum beenden. Er siegte aber. Ein philippinischer Journalist skizziert die Lage.
Das Bantayog ng mga Bayani (Heldendenkmal), ein Denkmal in Quezon City zu Ehren der Opfer der Diktatur des ehemaligen Präsidenten Ferdinand Marcos. picture-alliance/EPA/ROLEX DELA PENA Das Bantayog ng mga Bayani (Heldendenkmal), ein Denkmal in Quezon City zu Ehren der Opfer der Diktatur des ehemaligen Präsidenten Ferdinand Marcos.

Marcos Jr. ist der Sohn eines früheren Diktators. Im Wahlkampf rühmte er die Taten seines Vaters – unter dessen Herrschaft Tausende ermordet und gefoltert wurden. Zugleich wurden Milliarden von Dollar veruntreut. Die neue Vizepräsidentin Sara Duterte-Carpio ist die Tochter von Rodrigo Duterte, dem Vorgänger von Marcos Jr. Duterte ist bekannt für autoritäre Tendenzen und seinen verlogenen Krieg gegen Drogen, der mindestens 12 000 Menschenleben kostete.

Während Dutertes Amtszeit lebten wir in ständiger Spannung – und tun das weiterhin. Wenn wir durch enge Straßen gehen, fürchten wir, dass uns plötzlich jemand vom Rücksitz eines vorbeifahrenden Motorrads in den Kopf schießen könnte. Ein ehemaliger Kollege, der bei seiner Zeitung Recherchechef war, stieg deshalb aus dem Journalismus aus und wurde Regierungsberater. Dennoch wurden er und sein Bruder vor einigen Jahren an einer Ampel im Auto überfallen und ermordet. Bewaffnete Motorradfahrer gaben mehr als 40 Schüsse auf die beiden ab. Der Fall wurde nie aufgeklärt.

Voriges Jahr wurde ein Radiojournalist, der politische Korruption kritisierte, auf ähnliche Weise auf dem Heimweg erschossen. Ein hoher Regierungsbeamter und Soldaten wurden mit dem Mord in Verbindung gebracht.

Nachdem meine Frau Raissa, eine mehrfach ausgezeichnete Buchautorin und Investigativjournalistin, 2021 berichtete, dass Marcos Jr. ein verurteilter Steuerhinterzieher ist, postete ein ihm ergebener Anwalt ein Kurzvideo auf Social Media, in dem er sie obszön beschimpfte. Dafür wurde er suspendiert und vom Obersten Gericht aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Kürzlich aber berief Marcos Jr. ihn auf einen hochbezahlten Regierungsposten.

Schadenfroh erklärte er einem Reporter, dass ihm seine Verbalattacke nicht leidtue und meine Frau Glück habe, dass er sie nicht habe umbringen lassen. Fast hat man das Bild von Julius Streicher vor Augen, dem Nazi-Verleger und Hasspropagandisten in Hitler-Deutschland.

Es wird so viel gemordet, dass das vielen schon als normal erscheint. Trolle und Desinformation verzerren den öffentlichen Diskurs und untergraben das Vertrauen in die unabhängige Presse. Wut und Angst sind unsere ständigen Begleiter. Kriminalität und Korruption machen uns zornig, während uns die ungewisse Zukunft unseres Landes und unseres journalistischen Berufes ängstigt.

So geht es vielen in unserem Kollegen- und Bekanntenkreis. Sie leiden unter Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, Motivationslosigkeit und Ängsten. Das sind typische Depressionssymptome. Eine Freundin erzählt, sie habe wochenlang täglich getrunken, ehe sie das wieder unter Kontrolle bekam. Andere werden schweigsam oder ziehen sich immer weiter ins Private zurück.

Unsere düsteren Erwartungen erfüllen sich immer wieder. Was wir vor Jahrzehnten in der Diktatur durchlebt haben, wiederholt sich. Marcos, seine Familie, Kumpanen, Beauftragten und Lakaien bedienen sich schamlos an der Staatskasse. Sie wenden Gesetze willkürlich an, um gegen Gegner vorzugehen. Noch geht es nicht so brutal zu wie unter Marcos Seniors Herrschaft, aber es ist durch und durch kriminell.

Unser Land verwandelt sich in eine Anokratie – nur noch dem Namen nach eine Demokratie, die einer lebenden Leiche oder zumindest einem von Parasiten befallenen Körper gleicht. Legislative und Judikative dienen vor allem der Bereicherung der Elite.

Marcos‘ Vater setzte seine Diktatur mit Waffengewalt und Kriegsrecht durch. Dagegen wurde die neue Variante von populistisch eifernden Fanatikern, denen Fakten egal sind, in einem Wahlkampf an die Macht gebracht. Da ähnliche Tendenzen in vielen Ländern zu sehen sind, denke ich, dass wir jetzt im postfaktischen Zeitalter leben. Auf den Philippinen regt sich keine Empörung und kein Widerstand. Es gibt keine Rechenschaftspflicht. Wie denn auch, wenn Fakten in konventionellen wie sozialen Medien ständig verzerrt werden? So muss es im Dritten Reich gewesen sein. Aber die Propaganda ist heute noch durchdringender und omnipräsenter.

Ich habe gelesen, dass sich der im Exil lebende Schriftsteller Stefan Zweig und seine Frau 1942, als Hitler den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen schien, das Leben nahmen, weil ihnen die Zukunft so düster erschien. Ich verstehe nun, wie er sich gefühlt haben muss – obwohl ich nicht vorhabe, mir das Leben zu nehmen. Meine Frau und ich haben erwägt, ins Ausland zu ziehen, aber wir haben die erste Marcos-Diktatur überlebt und glauben, auch das hier überstehen zu können. Manchmal denke ich aber an all die Deutschen, die nach Hitlers Machtergreifung 1933 nicht gingen, als sie noch konnten, weil sie irrtümlich meinten, allzu schlimm werde es schon nicht werden.

Ich denke in historischen Zusammenhängen. Ich kann nicht anders, als die Ereignisse in der Ukraine mit dem Spanischen Bürgerkrieg zu vergleichen, dem Vorläufer des Zweiten Weltkriegs, in dem verschiedene Mächte ihre Waffensysteme testeten. Ähnlich erkenne ich in China heute das kaiserliche Deutsche Reich wieder – mit seiner Marineaufrüstung und Angst vor Umzingelung. Es stört mich, dass die US-Regierung, die sich als Leuchtturm der Freiheit und Menschenrechte gibt, unsere autoritäre, missbräuchliche Regierung umwirbt und als wichtigen Verbündeten gegen China sieht. Die Spannungen im Südchinesischen Meer nehmen zu. Die meisten Menschen lachen über die Möglichkeit eines Krieges. Das war vor den letzten großen Kriegen auch so.

Hinzu kommen die Folgen von Pandemie und die Klimakrise. Wir haben eine rekordverdächtige Hitzesaison hinter uns.Drei Monate lang herrschten durchschnittlich 42 Grad Celsius. Darauf folgte Taifun Doksuri, der Dutzende tötete und Hundertausende aus ihren Häusern vertrieb. Die Philippinen sehen stürmischen Zeiten entgegen – in mehr als einer Hinsicht.

Alan Robles ist Journalist in Manila.
euz.editor@dandc.eu