Hochschulbildung
Entwicklung beginnt in den Köpfen
Von Dirk Niebel
Immer mehr junge Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern studieren. Einschreiberaten von 20 Prozent und mehr sind in Mitteleinkommensländern keine Seltenheit mehr. Allein in China haben im Jahr 2010 6,6 Millionen Menschen ein Hochschulstudium begonnen. Indien will demnächst 30 neue Universitäten gründen. Damit wächst auch die Forschungskapazität: Schon 2007 kamen 37 Prozent aller weltweit tätigen Forscher aus Entwicklungsländern; fünf Jahre vorher waren es erst 30 Prozent. Afrika hat seinen Anteil an der Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen weltweit von 2002 bis 2008 um ein Viertel gesteigert.
Diese Trends sind einmalige Chancen für mehr Wachstum und Entwicklung in unseren Partnerländern. Immer mehr Entwicklungs- und Schwellenländer nehmen neue Technologien auf, um ihren Entwicklungspfad erfolgreich fortzusetzen. Andere vollziehen den schwierigen Übergang von der traditionellen Warenproduktion zu neuen Dienstleistungssektoren. Wieder andere finden ihren Platz in internationalen Wertschöpfungsketten und haben damit nicht nur anspruchsvolle technische, sondern auch neue betriebsorganisatorische Aufgaben zu lösen – man denke an die immer kürzeren Innovationszyklen auf den Abnehmermärkten der OECD-Länder (Organisation for Economic Cooperation and Development, ein Zusammenschluss der Industrieländer).
Jeder dieser Schritte setzt funktionierende Hochschulen voraus. Denn sie bilden die Fach- und Führungskräfte aus, die solche Übergänge gestalten. Sie legen durch Forschung die Grundlagen für neues Wachstum. Und sie machen vorhandenes Wissen durch Beratung nutzbar. Dabei ermöglichen zirkuläre Migration und die Chancen des Internets weltweite Wissensnetzwerke, die wir – etwa über Alumnikontakte – nachdrücklich unterstützen.
Die Chancen sind also da. Hochschulbildung ist ein machtvoller Hebel für alle Millenniumsentwicklungsziele – und zugleich ein unverzichtbarer Beitrag zur ganzheitlichen Entwicklung von Bildungssystemen. Aber die Chancen verwirklichen sich nicht von selbst. Zugang, Qualität und Relevanz müssen stimmen, damit Hochschulen ihr entwicklungspolitisches Potenzial ausspielen können.
Keine Gesellschaft kann es sich leisten, Talente brachliegen zu lassen. Darum soll jeder Studierfähige eine faire Chance haben, auch wenn das Studium Geld kostet. Auf den Zugang zu Bildung kommt es also an – und der verändert sich rapide: Die Verbreitung elektronischer Plattformen macht aktuelles Wissen für immer mehr Menschen verfügbar. Je nach Lage können quersubventionierte Studiengebühren, Stipendien oder Studiendarlehen zu mehr Fairness beitragen. So unterstützen wir zum Beispiel einen Fonds, aus dem Mikrofinanzunternehmen in Lateinamerika Studiendarlehen refinanzieren können. Auch bei den Lernmitteln geht es um fairen Zugang. Vielleicht können aktuelle Lehrbuchinhalte durch elektronische Plattformen wie eBooks nicht nur bei uns, sondern auch in Entwicklungsländern preiswerter und zugänglicher werden.
Gute Ausbildung kann nur an Hochschulen gelingen, die ihre spezifischen Stärken kennen und konsequent auf sie bauen. Die Qualität von Bildung ist also ein entscheidender Faktor. Für ein Hochschulsystem insgesamt bedeutet das Differenzierung und Spezialisierung: Lehre und Forschung, Grundlagenwissen und Berufsvorbereitung, Fachkenntnis und Problemlösungstechnik, regionale Kompetenz und globale Anschlussfähigkeit können nicht in jeder Hochschule gleichermaßen vertreten sein. Aber Studierende und Arbeitgeber müssen wissen, woran sie sind: Vergleichbarkeit und Transparenz sind die Stichworte.
Qualität ist aber auch eine Frage der Hochschulverfassung: Hochschulen sollen frei sein, den Regeln der Wissenschaft zu folgen, aber andererseits auch laufend Rechenschaft ablegen gegenüber Trägern, Studierenden, Gebern und Aufsichtsbehörden, die aus guten Gründen Qualität einfordern. Nicht zuletzt sind gute Lehrkräfte, zeitgemäße Didaktik und professionelle Hochschulverwaltung Hebel für mehr Ausbildungsqualität. Hier bewährt sich das von meinem Ministerium geförderte DIES-Programm des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD). Denn dort kommen Praktiker aus den Hochschulverwaltungen von Süd und Nord zum Austausch zusammen. Das geht von der Personalwirtschaft bis zur Zertifizierung und gegenseitigen Anerkennung von Curricula.
Marktfähige Kompetenzen
So wie die Wissenschaft nur an realen Problemen wachsen kann, so kommt auch die betriebliche Praxis nur voran, wenn sie die fachlichen Zusammenhänge immer wieder neu denkt und laufend besser versteht. Unternehmen brauchen Fach- und Führungskräfte, die marktfähige Kompetenzen mitbringen. Aber gerade in Asien und Lateinamerika gibt es immer noch hohe Barrieren zwischen Unternehmen und Hochschulen. Sie verstellen den Weg zu mehr Arbeitsplätzen, kraftvoller Innovation und neuen Unternehmensgründungen.
Deshalb setze ich auf Partnerschaften, in denen Unternehmen und Hochschulen voneinander lernen. Die Möglichkeiten reichen von der gemeinsamen Gestaltung von Curricula und wissenschaftlichen Wettbewerben über die Errichtung von Berufsberatungsstellen und Gründerzentren bis hin zu Unternehmenspraktika und Fortbildungsangeboten für Betriebsangehörige. Darüber hinaus geht es in vielen Ländern auch darum, den wachsenden Bedarf der lokalen Arbeitsmärkte gerade an naturwissenschaftlich-technischen Kompetenzen im Hochschulsektor besser zur Geltung zu bringen – auch gegen überholte Vorstellungen vom höheren Prestige anderer Fächer.
Wie jedes Entwicklungsziel liegen auch Zugang, Qualität und Relevanz der Hochschulbildung zuallererst in der Verantwortung unserer Kooperationsländer. Aber Deutschland ist im Hochschulsektor ein gefragter Partner. Denn gerade hier verfügen wir über besondere Stärken: Deutschland ist die Heimat traditionsreicher und leistungsstarker Hochschulen, die sich aus eigenem Antrieb mit viel Einsatz und Phantasie für entwicklungspolitische Ziele engagieren. Aus Überzeugung hat mein Ministerium deshalb seine Zuwendungen für die – vom DAAD und der Alexander von Humboldt-Stiftung professionell organisierte – Arbeit im Hochschulbereich Jahr für Jahr gesteigert. 2012 soll die Förderung bei gut 42 Millionen Euro liegen.
Ebenso ist Deutschland Standort ausbildungs- und forschungsstarker Unternehmen und Mitglied der maßgeblichen internationalen Normsetzungs- und Förderorganisationen. Nicht zuletzt verfügen unsere Durchführungs- und Partnerorganisationen über reiche Erfahrungen in der Hochschulzusammenarbeit. Die deutsche Entwicklungspolitik will als lernende Organisation all diese Stärken zusammenführen, damit Talente sich entfalten können und Wissen in Entwicklung mündet.
Natürlich geht es dabei zunächst um direkt entwicklungsrelevantes Wissen, das Studierende aus Entwicklungsländern an deutschen Hochschulen erwerben und nach Rückkehr in ihrer Heimat anwenden sollen. Aber das Studium in Deutschland vermittelt mehr: Wilhelm und Alexander von Humboldt stehen heute wie vor 200 Jahren für eine Bildung, die Freiheit entfaltet und sich einlässt auf die Weite der Welt. Die freie Forschung, die Studierende mitnimmt auf ihre Suche, die freie Lehre, die das Gefundene immer wieder neu erschließt – das ist unsere Antwort auf staatlich kontrollierte Kaderschmieden.
Denn Hochschulen bringen über bloße wirtschaftliche Funktionen hinaus auch Politik und Gesellschaft voran. Denn der in Hochschulen mögliche kritische Blick auf Herausforderungen und das faire Ringen um die vernünftige Lösung gehören zu einer offenen Gesellschaft. Der Einsatz für bessere Hochschulen in unseren Partnerländern bewirkt deshalb viel mehr als nur wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt. Es ist kein Zufall, dass viele politische Bewegungen für Freiheit und Demokratie – in Deutschland und weltweit – gerade in Hochschulen begonnen haben.