Kolumbien
In Kolumbien nutzen Indigene Gemeinschaften Kartografie, um altes Wissen zu bewahren und für ihr Land zu kämpfen

Über 50 Jahre wütete in Kolumbien ein bewaffneter Konflikt – Regierung sowie Guerilla- und paramilitärische Gruppen bekriegten sich um Landrechte sowie wirtschaftliche und politische Macht.
Große Teile der kolumbianischen Amazonasregion galten seitdem als Guerillagebiet. Sie wurden zum Schauplatz von Kämpfen, Vertreibung und Drogenanbau. Für alle, die nicht hier leben, waren diese Zonen lange so etwas wie eine No-Go-Area: ein Kriegsgebiet, in das sich niemand freiwillig begibt.
Die indigenen Gemeinschaften wiederum, die hier leben, konnten sich dem Konflikt nicht entziehen. Sie gerieten oft zwischen die Fronten, wurden etwa von Regierungseinheiten oder Guerillagruppen verdächtigt, mit deren jeweiligen Gegnern zusammenzuarbeiten. Viele waren von der Außenwelt mehr oder weniger abgeschlossen.
Ein Ort des Indigenen Aktivismus
So auch die Dörfer und Gemeinden im Munizip Santa Rosa. Bis zu einem Friedensabkommen zwischen der Regierung und der damals größten Guerilla, FARC, im Jahr 2016, das den Konflikt zumindest beruhigte, waren viele der Ortschaften für Außenstehende kaum zugänglich.
Die Region ist reich an natürlichen Schätzen: Santa Rosa liegt in der Anden-Amazonas-Region im Nordosten des Departements Cauca, einem Übergangsgebiet zwischen den Anden und dem Amazonasbecken. Hier treffen Anden-Bergökosysteme, die Überreste des Regenwaldes und wichtige Wassereinzugsgebiete mit großer biologischer Vielfalt aufeinander. Dieser natürliche Reichtum ist jedoch seit Jahrzehnten bedroht – durch staatliche Vernachlässigung, Umweltschäden und den Konflikt.
Nicht nur ist die gesamte „Bota caucana“, wie die Region genannt wird, stark vom Klimawandel betroffen, sie verzeichnet hohe Entwaldung, Bodenerosion, Flussverschmutzung und sinkende Wildtierbestände. Der weiterhin schwelende Konflikt sowie legaler und illegaler Goldabbau brachten zudem Gewalt, Quecksilberverschmutzung und soziale Spaltung in die lokalen Gemeinschaften. Die Bewohner*innen der Gemeinden und Ortschaften von Santa Rosa jedoch haben sich nicht unterkriegen lassen – und so ist Santa Rosa heute auch zu einem Ort des Indigenen Widerstands geworden.
Bei Landrechten geht es um mehr als geografische Abgrenzung
Die Indigenen im Gebiet von Santa Rosa gehören zum Volk der Inga. Die Familien leben verstreut auf Parzellen, auf denen sie ihre Häuser, Felder und Wälder haben. Doch sie leben nicht isoliert, sondern pflegen eine kollektive Siedlungsform und leben in solidarischer Gemeinschaft: Das Land ist für sie nicht individuelles Eigentum, sondern auch ein Raum der spirituellen und politischen Verbindung mit der Gemeinschaft.
Für die Inga beinhaltet das „Territorium“, auf dem sie leben, weit mehr als nur Land und Boden – es bedeutet Reichtum an natürlichen Ressourcen ebenso wie Gegenseitigkeit, es ist der Kern ihrer Identität und angestammten Wurzeln. Das Territorium ist weder eine Ware noch eine bloße geografische Abgrenzung, sondern ein integraler Lebensraum, in dem Natur, Kultur, Geschichte und Alltagsspiritualität zusammenfließen. Hier lebt die traditionelle Medizin weiter, das Wissen der Vorfahren, das Kunsthandwerk und die Mingas, eine Form gemeinschaftlicher Arbeitsgruppen. Dieses kulturelle Erbe wird von Generation zu Generation weitergegeben.
In Santa Rosa fließt noch sauberes Wasser in Bächen und Flüssen, die Luft ist rein, und für Landwirtschaft braucht es nahezu keine Pestizide. Die Inga schätzen ihre Artenvielfalt als ein Geschenk, das die Verantwortung mit sich bringt, die Vielzahl von Vögeln, Heilpflanzen und Wildtieren zu schützen. Doch angesichts der Bedrohungen für ihr Ökosystem und ihre Lebensweise entschieden sie – insbesondere auch die junge Generation –, dass sie politisch aktiv werden müssen.
In der Ortschaft Tarabita gründeten sie vor einigen Jahren den Indigenen Cabildo „Wairari Atun Sacha“, um für ihre Rechte einzutreten. Ihr Ziel: das soziale, kulturelle und ökologische Erbe der Bota Caucana zu schützen.
Junge Menschen setzen sich für den Schutz des Indigenen Erbes ein
Die kolumbianischen Cabildos sind Vertretungen Indigener Gemeinschaften gegenüber den lokalen und nationalen Regierungen, die sich autonom organisieren. Der Cabildo Wairari Atun Sacha vertritt die Inga in der Kommunalregierung von Santa Rosa. Er ist Teil der Vereinigung der Indigenen Räte von Santa Rosa und dem Indigenen Regionalrat von Cauca (CRIC) angeschlossen.
Das politische Hauptziel des Cabildo ist, Santa Rosa als angestammtes Gebiet des Inga-Volkes – als offizielles „Indigenes Territorium“ – anerkennen zu lassen. Yurani Quinayas, die erste Vertreterin des Cabildo, erklärt: „Das Territorium ist in erster Linie Leben. Es ist unser Zuhause und ein heiliger Ort, ein unendlicher Raum, in dem sich die Menschen entfalten und gemeinsam wachsen können.“
Über die Anerkennung ihres Territoriums möchten die Indigenenvertreter*innen ihre Autonomie absichern, denn Selbstverwaltung und kollektive Fürsorge sind für sie zentral. Die Menschen hier sollen über die Nutzung und den Schutz von Boden, Wasser und Wald gemäß ihrer Weltanschauung entscheiden können. Aufgezwungene Rohstoffprojekte lehnen sie ab, da sie „soziale und wirtschaftliche Disharmonie“ verursachen würden.
Darüber hinaus fordert der Rat unter anderem, dass staatliche und internationale Gelder für den Umweltschutz direkt an die Indigenen Gemeinden fließen sollen, die das Gebiet bewohnen. Umweltschutz ist hier eine kollektive und generationsübergreifende Aufgabe, und so werden alle Jugendlichen über die Bedeutung der Erhaltung des natürlichen Reichtums aufgeklärt.
Wie Open-Source-Mapping beim Kampf für politische Rechte hilft
2024 hat sich der Cabildo dem internationalen Projekt „Mapeos participativos para una Amazonía sostenible“ (Partizipative Kartierungen für einen nachhaltigen Amazonas) angeschlossen. Das Kartierungsprojekt ermöglicht den Mitgliedern, ihr ganzheitliches Verständnis des Territoriums gegenüber sich selbst und der Welt zu erklären.
Mithilfe von Open-Source-Kartierungstools wie der Weltkarte OpenStreetMap erstellen die Cabildo-Mitglieder seitdem Karten ihres Gebiets, in die ihr traditionelles Wissen einfließt. Sie zeigen die biologische Vielfalt und die Multikulturalität der Bewohner*innen auf; sie machen bereits geschehene Umweltzerstörung ebenso sichtbar wie zukünftige Bedrohungen durch illegalen Bergbau, Abholzung und Klimawandel. Die erste Kartierung beinhaltete spirituelle und kulturelle Orte wie heilige Stätten, alte Chagras (traditionelle Agroforstparzellen) oder Pfade, kommunale Infrastruktur wie Häuser, Feldwege und eine Dorfschule sowie natürliche Ressourcen wie Wasserquellen, Bäche, Wälder und Vogelvielfalt. Viele dieser lokalen Besonderheiten waren auf offiziellen oder kommerziellen Karten nicht verzeichnet.
Als „Instrumente der Macht“ bezeichnet die Gemeinde die Kartierungstools, da sie es ihr ermöglichen, die geografischen, kulturellen, ökologischen und politischen Eigenschaften, die ihren Lebensraum prägen, aus ihrer eigenen Perspektive zu dokumentieren. Bei der Erstellung der Karten werden sie von Sozialwissenschaftler*innen unterstützt.
Ein Jahr nach Beginn verwalten die Mitglieder des Cabildo nun ihre eigenen georeferenzierten Informationssysteme. Sie helfen ihnen, Risiken durch Waldbrände oder Erdrutsche zu erkennen und sich besser daran anzupassen – was angesichts des Klimawandels dringend nötig ist. Das Niederschlagsaufkommen ändert sich, die Temperaturen und die ökologische Verwundbarkeit steigen.
Vor allem aber geben die Karten den Inga in Santa Rosa politische Argumente an die Hand. Durch die Markierung der Verschmutzungs- und Degradationsgebiete auf der Karte konnten sie beispielsweise die kritischen Quecksilberverschmutzungsstellen im Einzugsgebiet des Flusses Caquetá lokalisieren, die durch nahegelegenen Bergbau verursacht werden. Ebenso konnten sie die durch Viehzucht und Holzwirtschaft beschädigten Waldgebiete dokumentieren sowie isolierte Weiler identifizieren, die keine Straßenanbindung oder grundlegende Versorgung haben.
Die Visualisierungen liefern der Gemeinde Argumente und konkrete Belege für ihre Forderungen gegenüber den Umweltbehörden und anderen öffentlichen Institutionen. Sie kann nun georeferenzierte Daten vorlegen, die ihre Argumente untermauern. Auch kann der Cabildo seine Naturschutzprojekte bei wissenschaftlichen Einrichtungen und Umweltorganisationen besser bekannt machen.
Für die Gemeindemitglieder sind die gemeinsam erstellten Karten ein Instrument, um ihr Territorium zu verteidigen und ihren Indigenen Lebensplan zu gestalten. Fernando Quinayas, der „Líder Gobernador“ und damit oberste Vertretung des Cabildo, erklärt: „Ein Kartografieprojekt im Amazonasgebiet kann nicht losgelöst von den historischen Kämpfen der Indigenen Völker um Selbstbestimmung betrachtet werden. Es geht um weit mehr als nur Kartografie: Es gab uns die Möglichkeit, lokales Wissen aufzubauen, mit Verwurzelung, Zuneigung und Würde.“
Quellen
Cabildo Indígena Wairari Atun Sacha & Centro de Estudios POMOTE-UNAULA, 2025: Informe de trabajo de campo – Mapeos participativos para una Amazonía sostenible (Visita 12–22 de mayo). Santa Rosa, Cauca. (Informe inédito proporcionado por la comunidad).
Instituto Interamericano para la Investigación del Cambio Global (IAI), 2024: Proyecto „Mapeos participativos para una Amazonía sostenible“ – Bosques Tropicales en las Américas: Enfoques Transdisciplinarios para Transformaciones Ambientales (SG-TF020-2024). Buenos Aires: IAI. (Documento de proyecto).
Leonardo Jiménez García ist Berater für Kommunikationsprozesse für sozialen Wandel und Dozent für Kommunikationsnarrative sowie Methoden der Sozialforschung. Er ist Leiter des Forschungszentrums POMOTE (Centro de Estudios con Poblaciones, Movilizaciones y Territorios, POMOTE) an der Universidad Autónoma Latinoamericana (UNAULA) in Medellín, Kolumbien.
info@leonardojimenezgarcia.com