Bildung
Überfüllte Klassenzimmer, Unterricht im Freien oder Ausfall

Jeden Morgen läuft Amin von seinem Zuhause im Dorf al-Nakhla mehr als eine Stunde lang durch unwegsames Berggelände. Zielort des Zwölfjährigen aus dem Bezirk Jabal Habashi in der jemenitischen Provinz Taizz ist das Klassenzimmer, das sein Lehrer unter einem alten heiligen Feigenbaum außerhalb der Schule beim örtlichen Friedhof eingerichtet hat. Etwa 20 Schüler*innen teilen sich den Schatten des Baumes.
Der heilige Feigenbaum dient der Omar-bin-al-Khattab-Schule als provisorisches Klassenzimmer. Da die zehn vorhandenen Klassenräume überfüllt sind, sieht sich die Schulleitung dazu gezwungen, den Unterricht für einige Schüler*innen nach draußen zu verlagern.
Laut dem Schulleiter Khaled Saeed sind mehr als 600 Schüler*innen in zehn kleinen Klassenzimmern im Schulgebäude untergebracht – in manchen gibt es weder Tische noch Stühle. Weitere 55 lernen unter dem Baum oder entlang einer Wand des Schulgebäudes.
Ein Jahrzehnt Krieg
Der multilaterale Bürgerkrieg im Jemen begann 2014. Nach einem Jahrzehnt Krieg ist der Bildungssektor schwer angeschlagen. Viele Schulen wurden zerstört, die übrigen sind völlig überfüllt.
„Der Krieg beeinträchtigt jeden Lebensbereich der Jemenit*innen, am schlimmsten jedoch den Bildungssektor. Etwa 4,5 Millionen Schüler haben die Schule abgebrochen. Kinder, die eigentlich in die Schule hätten gehen sollen, haben durch den Krieg ihre Zukunft verloren“, sagt Mahmoud Tarmoom, Schulleiter der al-Andalus-Schule in der Stadt Marib.
Das Land hat während des Krieges enorme Wellen der Vertreibung erlebt. Mit drastischen Folgen: Viele Familien flohen mit ihren Kindern aus den von Huthi-Rebellen kontrollierten Gebieten in Regionen, die von Regierungstruppen gehalten werden, ohne die Schuldokumente ihrer Kinder mitzunehmen. Das Bildungsministerium habe zwar versucht, eine Lösung zu finden, aber es bleibe ein großes Problem für die Eltern, erklärt Tarmoom.
„In Gegenden mit vielen vertriebenen Menschen, wie Marib, sind die Herausforderungen immens. Die Schulen sind überfüllt, es mangelt an Lehrkräften und Schulbüchern. Außerdem haben wir nicht genügend Schulgebäude“, sagt der Schulleiter. Laut dem UN-Habitat-Profil der Stadt Marib stieg die Zahl der Schulen von 18 im Jahr 2014 auf 60 im Jahr 2020. Dieses enorme Wachstum liegt an den steigenden Bevölkerungszahlen, vor allem durch Binnenflüchtlinge. Laut UN-Habitat hatte Marib 2014 knapp 17.000 Einwohner*innen; 2019 waren es bereits etwa 630.000.
Mangel an Lehrkräften
Laut Abdulaziz Sultan, Berater des jemenitischen Bildungsministers und Vorsitzender der Lehrergewerkschaft in Taizz, werden mehr als 84.000 Schüler*innen in der Provinz Taizz in völlig überfüllten Klassenzimmern unterrichtet. Da es an geeigneten Sitzgelegenheiten mangelt, lernen viele im Freien, manchmal an unsicheren Orten wie halb eingestürzten Gebäuden.
Sultan berichtet auch, dass neun Schulen in Taizz geschlossen werden mussten, weil sie in Reichweite der Waffen der Huthis liegen.
In Taizz gibt es mehr als 45.000 Lehrkräfte, aber laut Sultan ist das nicht genug. Einige arbeiten ehrenamtlich, um die Lücken zu füllen. Außerdem unterrichten viele pensionierte Lehrkräfte weiter, da ihre Renten nicht ausgezahlt wurden, was das ohnehin schon überlastete Bildungssystem zusätzlich finanziell belastet. „Die Gehälter der Lehrkräfte sind unglaublich niedrig und reichen nicht einmal zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse“, sagt Sultan. Der monatliche Durchschnittsverdienst für Lehrkräfte im Jemen liegt bei etwa 60 Dollar. In von Huthis kontrollierten Gebieten kostet ein Sack Mehl etwa 150 Dollar.
UNICEF warnt davor, dass es in der kommenden Generation in fünf bis zehn Jahren weit verbreiteten Analphabetismus und einen Mangel an mathematischen Grundkenntnissen geben könnte, sofern sich die Bildungssituation im Jemen weiter verschlechtert. Diese Generation hätte damit schlechte Voraussetzungen, sich einen angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen.
Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Egab veröffentlicht.
Abdulrahman Al-Humaidi ist ein jemenitischer Journalist und Faktenprüfer. Er berichtet über politische, soziale und humanitäre Themen im Jemen.
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